EIN KLASSIKER DER DEUTSCHEN SCHACHLITERATUR

Von Johannes Fischer

Tarrasch Die Schachpartie Cover

Siegbert Tarrasch,
Das Schachspiel,
Zürich: Edition Olms, 2001,
[Erstauflage 1931],
19,95 Euro

Der Tod Siegbert Tarraschs am 17.2.1934 symbolisiert das Ende einer glanzvollen Ära des deutschen Schachs. Nicht zuletzt, weil er in den Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft fällt, und sich das deutsche Schach von dem intellektuellen Kahlschlag, den die Nazis anrichteten, nie richtig erholen sollte.

In gewisser Weise ist Adolf Anderssen der Wegbereiter Tarraschs. Beide stammen aus Breslau und Anderssens Erfolge hatten in der schlesischen Hauptstadt ein günstiges Klima für die Entwicklung von Schachtalenten geschaffen. Der am 5. März 1862 geborene Tarrasch lernte Schach im Alter von 15 Jahren, also relativ spät, warf sich dann aber mit Feuereifer darauf und wurde rasch ein starker Spieler. Nach seiner Schulzeit ging er nach Berlin, um dort Medizin zu studieren. Nach erfolgreichem Studium praktizierte er als Arzt in Nürnberg und später in München. Der Beruf hielt ihn jedoch nicht vom Schach ab und durch seine zahlreichen Turniererfolge galt er am Ende des 19. Jahrhunderts als einer der besten Spieler der Welt.

Dazu gesellte sich eine umfangreiche publizistische Tätigkeit: Tarrasch schrieb für zahlreiche Tages- und Schachzeitungen und war Autor einer stattlichen Reihe von Turnier- und Lehrbüchern. Seine unterhaltsame und pointierte Art zu schreiben brachte ganzen Generationen im In- und Ausland das Schach näher und in Büchern wie 300 Schachpartien und Die Moderne Schachpartie formulierte er die Grundprinzipien des Klassischen Schachs.

Erfolgreich im Beruf, als Turnierspieler und als Publizist. Dazu elegant im Auftreten, Vater von fünf Kindern und gesellschaftlich angesehen. Eigentlich ist Tarrasch ein Vorzeigeschachspieler. Dennoch ist sein Ruf heute unverdient schlecht. Der Grund hierfür liegt vor allem in einem gewissen Dogmatismus, der die Kehrseite von Tarraschs Klarheit und Prägnanz bildet. Ohnehin bot der stets etwas hochfahrend wirkende Tarrasch reichlich Angriffsflächen: So zeigt er z.B. in seinem Buch über den Wettkampf gegen Lasker 1908, den Tarrasch deutlich mit 5,5:10,5 verlor, einen mit Hochmut gepaarten Mangel an Selbstkritik und ein beinah schon komisches Unverständnis für die Stärken Laskers. Und war mit Lasker der Konkurrent im praktischen Spiel letztlich erfolgreicher, so erwiesen sich die Theorien des anderen Tarrasch-Rivalen Nimzowitsch beim Streit um die „richtige“ Schachauffassung als zukunftsweisend. (Biographische Details und eine aufschlussreiche Diskussion über Tarraschs Dogmatismus und seine Stellung als Jude in der deutschen Gesellschaft liefert: Harald Ballo, „Siegbert Tarrasch: Schachspieler, Arzt, Deutscher, Jude“).

All das prägt den heutigen Blick auf Tarraschs letztes, 1931 veröffentlichtes Buch, das zugleich sein erfolgreichstes war: Das Schachspiel: Systematisches Lehrbuch für Anfänger und Geübte. Hier zeigen sich Tarraschs Stärken als Autor in hellem Licht. Nicht umsonst erfreut es sich anhaltender Popularität und ist mit einer Gesamtauflage von 125.000 Exemplaren eines der meist verkauften deutschen Schachbücher überhaupt.

Das ganze Buch bezeugt Tarraschs Begeisterung für das Schach und seinen Wunsch, dies Spiel anderen näher zu bringen: „Das Schach hat wie die Liebe, wie die Musik die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen. Den Weg hierzu wollte ich in diesem Buche weisen.“ (S. 8) Die Ambivalenz zwischen der Liebe für das Spiel und dem pädagogischen Anspruch gibt allerdings nicht so schnell Ruh und deshalb warnt Tarrasch sogleich: „[Der Anfänger] möge ja nur den begreiflichen Wunsch, möglichst bald eine Partie spielen zu wollen, unterdrücken. Das Partiespielen im Anfängerstadium ist der sichere Weg zur Stümperschaft.“ (S.7) Aber auch diese gestrenge Mahnung erfährt wenige Zeilen später eine Relativierung: „Jeder leidlich begabte Spieler … kann es zum Meister bringen. Aber das ist ja auch gar nicht nötig! Der richtige Standpunkt ist es zu seinem Vergnügen zu spielen, und man glaube ja nicht, daß der Genuß proportional dem Können sei.“ (S.8)

Tarrasch schreibt vor allem für ein erwachsenes Publikum – die systematische Förderung jugendlicher Schachspieler steckte damals noch in den Kinderschuhen. Dementsprechend weniger Wert legt er auf die spielerische Vermittlung des Schachs, sondern er begreift sein Buch als einen Grundkurs, um vernünftig Schach spielen zu können – und verlangt von seinen Lesern ein wenig Anstrengung: „Der Schüler, der den bisher vorgetragenen Lernstoff eifrig und mit vielen Wiederholungen studiert und sich assimiliert hat, ist bereits ein guter Spieler.“ (S.279)

Getreu seinem Glauben, dass man zum Schachspielen nicht geboren sein muss, sondern es lernen kann, beginnt Tarrasch mit der Erläuterung der Grundregeln, um anschließend nach dem Grundsatz „Vom Einfachen zum Schweren“ die wichtigsten Endspiele, danach typische Mittelspielkombinationen und Motive und schließlich die Eröffnungen zu behandeln.

Am Ende des Buches präsentiert Tarrasch sieben kommentierte Partien, die seinen guten Ruf als Autor erklären. Verglichen mit heutigen Standards leiden seine Kommentare zwar an einem gewissen Mangel an konkreten Varianten, aber dafür gelingt es ihm, die strategischen Motive der jeweiligen Partien anschaulich zu erläutern.

Mögen manche von Tarraschs Auffassungen auch altmodisch und überzogen sein, so wirken seine Erläuterungen zum End- und Mittelspiel erstaunlich aktuell. Lebhaft und anschaulich legt er z.B. die klassischen „Richtlinien für die Behandlung des Mittelspiels“ dar: „Man kann nicht beliebig angreifen, sondern muß nach den Erfordernissen der Stellung handeln; bei solchem Spiel auf Position ergeben sich die Kombinationen von selbst. Man muß dort angreifen, wo man stark und der Gegner schwach ist, muß die schwachen Punkte im feindlichen Lager besetzen und den Partner an ihrer Besetzung hindern, wie eigene starke Punkte ausbauen.“ Dann folgt der Satz, der oft und falsch zitiert, mit zu Tarraschs Ruf als Dogmatiker beigetragen hat: „Jede Stellung ist als ein Problem zu betrachten, in der es den richtigen Zug (oft nur ein einziger) zu finden gilt.“ (S. 259)

Natürlich hat sich die Auffassung des Mittelspiels seitdem enorm verändert und ist differenzierter geworden, aber Tarraschs Empfehlungen stellen nach wie vor eine gute Grundlage strategischen Spiels dar.

Auch seine Kommentare zum Erlernen des Kombinationsspiels wirken modern: „Hier führe ich die unendliche Mannigfaltigkeit der Schachkombinationen auf gewisse, immer wiederkehrende Typen zurück und suche auf diese Weise die Schüler an zahlreichen Beispielen das Kombinieren zu lehren.“ (S.6-7).

Aus heutiger Sicht problematisch ist der Teil über die Eröffnungen. Hier befindet sich Tarrasch auf dem Stand von 1931 und war vermutlich am Ende seines Lebens nur bedingt in der Lage, die neuen Ideen, die sich damals Bahn brachen, angemessen zu würdigen. Das zeigt sich u.a. daran, dass die „Indischen Eröffnungen“ nur recht geringe Aufmerksamkeit bekommen. Bezeichnend ist sein Kommentar zum „Zukertort-Reti-System“ und zur „Englischen Partie.“ „Eine sehr schwierige Materie. Der Zug 1.Sg1-f3 … hat dem zu früh verstorbenen Großmeister Réti als Einleitung zu einem tiefsinnigen, wenn auch nach meiner Meinung ganz verfehlten System gedient.“

Damals, scheint es, wurden Eröffnungsurteile kategorischer gefällt. Aber Theorie und Praxis sind bekanntlich zwei Paar Schuh. So schreibt er über Französisch: „für ganz vollwertig kann ich den Gegenzug 1….e7-e6 auf 1.e2-e4 nicht halten.“ Und über Sizilianisch urteilt er: „Streng korrekt ist der Zug gewiß nicht, denn er leistet nichts für die Entwicklung.“ (S.345) Dessen ungeachtet spielte Tarrasch in seinen eigenen Partien Sizilianisch und Französisch mit Erfolg.

Um den Lehrbuchcharakter des Buches zu erhalten und dem Leser hilfreiche Ratschläge zu geben, wurde die Erstauflage von 1931 später im allgemeinen Teil gestrafft und der Eröffnungsteil aktualisiert. Leider fehlen in den Neuauflagen Verweise, welche Stellen ergänzt wurden und mittlerweile ist die Aktualisierung selbst nicht mehr zeitgemäß. Das führt zu kuriosen Resultaten. So liest man in der Auflage von 2001: „Der von Nimzowitsch eingeführte Zug 3…Lb4, den der jetzige Weltmeister Botwinnik oft mit Erfolg anwandte…“ (S.341) Ein zweifelhafter Kompromiss: weder weiß man, was Tarrasch damals gedacht hat, noch flößt ein theoretisches Urteil Vertrauen ein, das zu einer Zeit gefällt wurde, als Botwinnik Weltmeister war. Warum nicht der Kraft des Originals vertrauen? Denn trotz einiger überzogener Behauptungen, Anklängen von Dogmatismus und einer nicht mehr zeitgemäßen Sicht der Eröffnungen, wirkt Das Schachspiel über 70 Jahre nach seinem ersten Erscheinen noch immer erstaunlich vital, lehrreich und frisch.