DIE JAHRHUNDERTMEISTERSCHAFT

Von Karsten Müller

Die Jahrhundert-Meisterschaft im Schach Cover

Claus Dieter Meyer / Till Schelz-Brandenburg, (Hg.),
Hanno Keller, Robert Hübner und Edmund Bruns:
Die Jahrhundert-Meisterschaft im Schach:
Die Deutsche Einzelmeisterschaft 1998 in Bremen und zur Schachgeschichte der Hansestadt,
Schünemann-Verlag, Bremen 2001,
326 Seiten, Hardcover,
24,80 Euro

Früher war es weit verbreitete Sitte, im Anschluss an ein Turnier ein Turnierbuch herauszugeben, in dem die Partien festgehalten und kritisch beleuchtet wurden. Man denke nur an Bronsteins Buch über das Kandidatenturnier Zürich 1953, das sich zu einem der Klassiker der Schachliteratur entwickelt hat. Aufgrund der großen Menge an aktuellem Partienmaterial sind Turnierbücher im Internet-Zeitalter leider aus der Mode gekommen.

Umso erfreulicher ist die Entscheidung des SV Werder Bremen, die Deutsche Einzelmeisterschaft 1998, die wir dem 100jährigen Jubiläum des SV Werder und dem 50jährigen Geburtstag seiner Schachabteilung verdanken, in dieser Form zu dokumentieren. Till Schelz-Brandenburg fängt dabei jeweils die Besonderheiten am Rande des Brettes ein, während Claus Dieter Meyer mit gewohnter Akribie die Schönheitspreispartie und spektakuläre Fragmente analysiert.

Zur Veranschaulichung der Qualität des Buches möchte ich zwei Kostproben bringen: In dem extrem stark besetzten Turnier – wohl der stärksten DEM des vorigen Jahrhunderts – gibt es anfangs eine große Überraschung, denn der Erfurter GM Peter Enders startet wie eine Rakete und kassiert drei der ersten vier Schönheitspreise. Auch der topgesetzte Artur Jussupow kann seinen Lauf nicht stoppen:

JUSSUPOW – ENDERS
Bremen (4), 09.11.1998

Auf den ersten Blick scheint es, als hätte Weiß eine vielversprechende Angriffsstellung, doch Enders hat einen mächtigen Konter in petto: 20…Le4!! 21.Txe4? „Die positionelle Misere nach 21.Db5 a6 22.Db3 Lxb1 23.Dxb1 Sd5 wollte Jussupow tunlichst vermeiden, aber nun kommt es noch schlimmer.“ (C.D. Meyer) 21…Sxe4 22.Dxe4 Dxd4! „Wegen der versprengten Truppenteile des Weißen „hängt die erste Reihe durch“. (C.D. Meyer) 23.Dxd4(?) „Relativ besser, aber auf Dauer sicherlich auch ungenügend ist 23.De1 , z.B. 23…Dd1 24.Kf1 (24.Te3? Txc3!-+) und Schwarz hat die angenehme Wahl“ zwischen 24…Td7 und 24…Da4! (C.D. Meyer). 23…Txd4 24.Lc2 Txh4! „Nur so geht es weiter, und man beachte, dass Enders auch diesen Zug schon bei 20…Le4 berechnet haben musste.“ (R. Knaak) 25.Txh4 Txc3 26.Le3 Txc2-+ und trotz zähen Widerstands von Jussupow setzte sich Peter Enders nach 32 weiteren Zügen schließlich durch.

Doch die Welle, die den Erfurter zu Anfang hoch hinauf trägt, schlägt gegen Ende des Turniers um und spült ihn schließlich sogar aus den Preisrängen hinaus, worauf die Turnierleitung beschließt, ihm als Trostpflaster einen Sonderpreis in Höhe von 500 DM zu überreichen. Das Titelrennen kann schließlich Jörg Hickl für sich entscheiden, und die folgende Partie, für die er den Schönheitspreis der Runde erhält, bringt ihn dabei ein gutes Stück voran.

HICKL – JUSSUPOW
Bremen (7), 12.11.1998

1.c4 c6 2.Sf3 d5 3.e3 Sf6 4.b3 Lg4 5.Lb2 e6 6.Le2 Sbd7 7.Sc3 Ld6 8.Sd4 Lxe2 9.Dxe2 0-0 10.cxd5 exd5

11.Sf5?! Lc5?! „Schickt den Läufer auf sumpfiges Gelände. Natürlich und gut war 11…Le5! “ (C.D. Meyer) 12.Sa4 Lb4? „Für die deutsche Nr.1 ein ganz dicker Bock!“ (C.D. Meyer) 12…Te8 13.Sxc5 Sxc5 14.0-0 Se6= (Ftacnik in ChessBase Magazin 68) oder 12…Le7 waren vorzuziehen. 13.Sxg7! b5 „Nach 13…Kxg7 14.Dg4+ Kh8 15.Dxb4 kann Schwarz aufgeben.“(R. Knaak) 14.Sf5 bxa4

15.Dh5!! „Das hatte Artur übersehen. Die Dame ist wegen 16.Sh6 matt tabu, und gegen 16.Dg5+ gefolgt vom Matt auf g7 gibt es nur die Verteidigung 15…Kh8 die allerdings den Springer f6 anfesselt und die Gabel auf g4 zuläßt.“ (J. Hickl) 16.Dg4 Lxd2+ 17.Kxd2 Tg8 18.Dxa4 Txg2 „Um nicht mit der komplizierten Materie wie mit einem Leichtgewicht zu jonglieren, sei hier zumindest auf zwei Alternativen hingewiesen: Ein verblüffender Versuch, den „Chefläufer“ (vorübergehend) zu bändigen, besteht in 18…d4!?
A) 19.Lxd4?! c5 mit Gegenangriff;
B) 19.Sxd4!? Txg2 20.Ke1± (20.Taf1±) ;
C) 19.Dxd4?? Da5+-+;
D) Allein 19.Sh6 leistet gute Überzeugungsarbeit: 19…dxe3+ (19…Tg7 20.Dxd4) 20.Kc2 Tg7 21.Tad1± /+-; 18…Sc5 bringt zwar den Springer mit Tempo nach e4, aber der feindliche Druck – insbesondere auf den dunklen Feldern – ist doch zu stark: 19.Df4 Sce4+ 20.Ke2 Txg2 21.Sh6 Tg7 22.Sg4 Tg6 23.Thg1 Da5 24.Lxf6+ Txf6 25.Sxf6 Dd2+ 26.Kf1 Dc3 27.Sxe4 Dxa1+ 28.Kg2 Tg8+ 29.Sg3+- “ (Auszüge aus der Analyse von C.D. Meyer) 19.Ke2 „Materiell ist die Lage zwar immer noch ausgeglichen, doch die schwarze Stellung gleicht einer Ruine. Die ehemals solide Bauernstruktur ist völlig zerstört, noch schwerer wiegt die Schwächung auf der langen Diagonalen. Hier versank Jussupow in tiefes Nachdenken – doch bereits zu spät! Neben dem offensichtlichen Dxc6 droht auch der einfache Qualitätsgewinn mit Sg3 nebst Kf1.“ (J.Hickl) 19…Dg8 20.Sg3 Dg6 21.Tac1 Te8 22.Df4 c5 23.Kf1 Txg3 24.Lxf6+ Sxf6 25.hxg3 Se4 26.Th6 Dg7 27.Td1 Te5 28.Kg2 Sg5 29.Tc6 h6 30.Txh6+ 1-0.

Doch die DEM 98 ist nicht das einzige Thema des Buches. Hanno Keller beschreibt sehr facettenreich die Geschichte des Schachlebens in Bremen und Robert Hübner zeichnet ein Porträt und entwickelt ein überraschendes Spielerprofil von Carl Carls, dem einzigen Bremer, der bisher Deutscher Meister werden konnte. Edmund Bruns untersucht die Rolle, die Schach beim Überlebenskampf der Häftlinge in den Konzentrationslagern des Emslandes spielte. Dieser Abschnitt ist sehr bewegend, und ich habe den Eindruck gewonnen, als ob Zweigs Schachnovelle hier ein Gegenstück im wirklichen Leben gefunden hat.

Nur zwei Kritikpunkte: Ich hätte mir noch mehr Informationen über das Geschehen hinter den Kulissen während der Deutschen gewünscht, und es wäre aufgrund der großen Verbreitung von Datenbanken nicht nötig gewesen, alle Partien der DEM abzudrucken. Insgesamt denke ich aber, dass dieses beeindruckende und sehr empfehlenswerte Werk Schachfreunden aller Couleur viel Freude bereiten wird.