RUDOLF SPIELMANN

4+1 Annäherungsversuche

Von Michael Ehn

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 1/07)

Rudolf Spielmann
Foto: Archiv Michael Ehn


1. HINTER DEN KULISSEN
(s. Anm. 1)

Bekannte Zeitgenossen nannten ihn den „Ehrenritter des Königsgambitordens“ (s. Anm. 2) und den „letzten Romantiker“ (s. Anm. 3 ); er galt als der Inbegriff des Angriffsspielers und opferfreudigen Taktikers, dessen Ruhm bis in unsere Zeit fortwirkt. In seinen frühen und mittleren Jahren (1903-1928) bevorzugte Rudolf Spielmann das Königsgambit, noch lieber aber versuchte er sich in der Wiener Partie und im Läuferspiel. Trotz extrem schwankender Ergebnisse war er bei Organisatoren und beim Publikum ein gern gesehener Teilnehmer jedes Turniers – stets waren spektakuläre Partien zu erwarten, seltener musste dafür Preishonorar ausbezahlt werden. Natürlich war sein Nimbus durch eine Reihe glänzender Opfersiege und -angriffe wohlbegründet – mit „Angreppet är spelets själ!“ (s. Anm. 4 ) brachte er sein Credo auf eine Kurzformel. In seinem Hauptwerk Richtig opfern!, Leipzig 1935, wurden erstmals Opferarten primär nach ihrer Funktion, ihrem Zweck, und nicht nach ihrer Dicke untersucht.

Aber erschöpft sich damit Spielmanns Bedeutung für das Schachspiel des 20. Jahrhunderts? Die Reduktion auf die Romantik und die Etikettierung als Opferkönig, die ihm selbst nicht immer sehr angenehm war, ist grob vereinfachend und einseitig. Untersucht man ein größeres Partiencorpus, präsentiert sich hinter dieser Kulisse ein vielseitiger Weltklassespieler, der das gesamte Arsenal seiner Zeit beherrschte. Er verstand es sehr wohl, Eröffnungen an vielen Stellen zu bereichern und zu vertiefen, wusste Endspiele exzellent zu behandeln und konnte Partien auch große strategische Leitlinien geben (siehe z.B. seinen Sieg gegen Capablanca in Karlsbad 1929). Interessant, dass die Vertreter des sowjetischen Schachs stets mit Achtung von ihm sprachen. Für Alexej Suetin zählt Spielmann zu den frühen Repräsentanten eines modernen dynamischen Stils: „Ein Gambit ist aber nichts anderes als eine zweischneidige Form der dynamischen Strategie. Im Zeitalter der positionellen Schule zählte Spielmann zu den wenigen Verfechtern der dynamischen Spielweise.“ (s. Anm. 5)

2. SPIESSRUTENLAUF ODER WENN FORTUNA BLUFFT

Seiner Berufswahl und seinen Motiven stand Spielmann stets mit einer für einen Romantiker kaum für möglich gehaltenen Nüchternheit gegenüber:

„Ich war früher Kaufmann, habe aber eingesehen, daß ich in meinem Beruf nicht recht weiterkommen kann und bin allmählich zum Schach übergegangen, von dem ich mir mehr Erfolge versprach. Nachdem mir das Leben in meinem früheren Beruf keine Genugtuung verschafft hat, habe ich mich zum Schach hingezogen gefühlt, da ich mir auf diesem Gebiete Erfolge (ich verstehe unter „Erfolge“ die Besiegung meiner Gegner) und damit Genugtuung versprach. An das Schachspiel fesselt mich der Kampf. Die Feinheiten interessieren mich weniger und sind für mich nur Mittel zum Zweck, d.h. zum Gewinn der Partie.“
[Spielmann: Wiener Schachzeitung 1926, 165]

Seine frühe Bewunderung der Romantiker (hier besonders Tschigorins) ging mit der Zeit auf Lasker über, den er über seine epochale Spielstärke hinaus wegen seines Hinweises auf den Kampfcharakter des Spiels bei gleichzeitiger Denkökonomie und des „Maßhaltens in tausend und einem Ding“ (s. Anm. 6 ) bewunderte. Ja es mischte sich sogar etwas Neid in diese grenzenlose Bewunderung, denn er selbst wurde ja oft genug vom Gambit- und anderen Teufeln geritten: Spielmann war ein „echtes Wiener Kind“(s. Anm. 7 ), gutmütig und ruhebedürftig, raunzte gern im weichen Wiener Dialekt, ein „dicker Faulpelz, der gutes Essen und gutes Bier jeder Beschäftigung welcher Art immer vorzog“ (s. Anm. 8 ), der Typus des Nur-Schachmenschen, ein außerordentlich bescheidener und Frauen gegenüber ein sehr verlegener Mann, fatalistisch und abergläubisch. Depressive Stimmungen wechselten rasch mit Hochs:

„Bekanntlich bin ich während eines Turniers Stimmungsmensch und sehr – leider viel zu sehr vom äusseren Milieu abhängig. Wenn man wissen will, ob ich mich wohl fühle, gut untergebracht bin, ob schönes Wetter herrscht, ob sich in der Nähe des Turnierlokals schöne Berge, lauschige Plätze, würzige Tannenwälder befinden, braucht man nur einen Blick auf die Turniertabelle zu werfen.“
[Spielmann: Magyar Sakkvilag 1934, 236f]

Erschreckend ist der nach dem Ersten Weltkrieg schnelle, fast nahtlose Übergang vom schlanken Jüngling mit vollem Haar zum vorzeitig gealterten „Onkel Rudi“, der kleinwüchsig, rundlich und glatzköpfig mit einem eigenartig fanatischen Ausdruck in den Augen seinem Gegner gegenübersitzt. Die Mobilität des reisenden Schachprofis ist, obgleich erzwungen, bemerkenswert: 120 Turniere, 50 Zweikämpfe und mehr als 1800 ernste Partien zählt die Statistik, und das, obwohl er von 1915-1918 gar nicht spielte. Nicht aufzuzählen sind die Simultanveranstaltungen, die er primär in Österreich, Deutschland, Holland und Schweden gab, und die freien Partien, die ihn durch ganz Europa führten.

Er wird als Mann ohne Eigenschaften, unpolitisch, religiös desinteressiert, unbeholfen, wunderlich, unintellektuell, unerotisch beschrieben: „Die hässlichsten Männer bekommen immer die schönsten Frauen, die wildesten Angriffsspieler immer nur die ödesten Stellungen“, rief er einst seufzend aus. (s. Anm. 9)

Als „Spießrutenlauf“ bezeichnet er sein Karlsbader Treffen 1929 mit Vera Menchik, gleichsam Symbol seines Umgangs mit Frauen. Ebenso war er überzeugt, dass ihm die ebenfalls weibliche Muse des Schachspiels nicht wohl gesinnt war:

„Man spricht von Glück oder Unglück. Jeder erfahrene Meister ist an das Walten dieser höheren, unberechenbaren Macht gewöhnt und weiß, dass es vergeblich wäre, sich gegen dieselbe auflehnen zu wollen. Daher der gekünstelte Gleichmut, mit dem oft schwerwiegende Niederlagen hingenommen werden. Ja, Caissa ist nicht nur launenhaft, sondern manchmal auch recht neckisch gestimmt, und das ist schlimm. Sie lächelt vielsagend und ist in Wirklichkeit unnahbar, sie winkt verheißungsvoll, und lockt ihre Jünger vom sicheren Remispfade in ein Gestrüpp
von Varianten, aus dem es bei der ach so knappen Bedenkzeit kein Entrinnen gibt. (…) Aber mich hat buchstäblich das Schicksal gefoppt.“
[Spielmann: Das deutsche Schach 1931, Nr. 46, 1465-1467]

In diesem merkwürdigen Fatalismus gefangen, trübte und minderte er selbst seine gelungensten Leistungen. So schreibt er zu einer seiner besten Partien gegen Hönlinger (s. Anm.5.): „Ich will mir dies nicht als besonderes Verdienst anrechnen, denn das Gelingen solcher Attacken hängt sehr vom Zufall ab.“

3. DER BRAVE DAMENBAUER

Schon 1924 erkannte Spielmann in seinem legendären Aufsatz „Vom Krankenlager des Königsgambits“(s. Anm. 10 ): „Das Königsgambit ist noch nicht gestorben, aber schwerkrank.“ Diese und noch eine weitere Einsicht: „Das Unglück will, dass ich gerade solche Eröffnungen spiele, die meinem aggressiven Stil am wenigsten liegen“(s. Anm. 11 ), setzten ein Umdenken und einen Läuterungsprozess in Gang, der bis Karlsbad 1929 dauerte. Von Selbstzweifeln geplagt, krempelte Spielmann in einem Alter von fast 50 Jahren sein Eröffnungsrepertoire völlig um. Eine überaus
bemerkenswerte Leistung, die sofort große Erfolge zeitigte – nur Nimzowitsch muss er im Riesenturnier von Karlsbad ziehen lassen. Um dann in einem kurzen Artikelchen zu dieser Revolution anzumerken:

„1.e2-e4 oder 1.d2-d4?
Seit meinem Semmeringer Sieg vor drei Jahren war ich mit Ausnahme von Magdeburg nicht mehr imstande, einen größeren Turniererfolg zu erringen. Nicht dass ich mir etwa den Vorwurf machen könnte, schlecht gespielt zu haben. Mein Unglück, meine schwache Seite war immer die Eröffnung. Als überzeugter Anhänger der offenen Partie bediente ich mich fast ausschließlich des Eröffnungszuges 1.e2-e4, machte aber die denkbar schlechtesten Erfahrungen. Meist saß ich schon nach wenigen Zügen in irgend einer öden Remisvariante und wenn ich, verärgert über die Verflachung, mit etwas Risiko durch eine gambitartige Spielweise Leben aufs Brett bringen wollte, da geschah es oft, dass ich verlor. Wer aber mit Anzugspartien keinen Erfolg erringt, der kann in einem modernen Meisterturnier nichts leisten, denn im Nachzuge sind auf die Dauer keine großen Geschäfte zu machen. Ungern, aber dem Zwang der Verhältnisse folgend, entschloß ich mich also in Karlsbad, ins Lager der Damengambitler überzugehen. Der Erfolg war so gewaltig, dass ich selbst geradezu sprachlos vor Überraschung bin. Meine 11 Anzugspartien trugen mir 9½! Punkte ein. Nicht etwa, dass die Partie mit 1.d2-d4 schon gewonnen wäre! Aber es sind Stellungen erreichbar, die lebhaften Kampf gestalten, der Nachziehende muß jedenfalls um Ausgleich kämpfen, er kann nicht ohne weiteres Remisvarianten vorsetzen.“
[Spielmann: Kagans Neueste Schachnachrichten 1929, 344f]


ANMERKUNGEN

1) Die Zwischentitel paraphrasieren einige Titel wichtiger Aufsätze Rudolf Spielmanns.
2) Tartakower, Savielly: Die hypermoderne Schachpartie, Wien 1924, 212
3) Réti, Richard: Die Meister des Schachbretts, Mährisch-Ostrau 1930, 236
4) Tidskrift för schack 1930, 272
5) Suetin, Alexej: Schachlehrbuch für Fortgeschrittene, Berlin 1971, 115.
6) Siehe Hannak, Jacques: Emanuel Lasker. Biographie eines Schachweltmeisters, Hamburg 4. A. 1984, 52
7) Siehe Vidmar, Milan: Goldene Schachzeiten. Erinnerungen, Berlin 1960, 97
8) Siehe Hannak, a.a.O., 262
9) Postma, Siep H.: Rudolf Spielmann. De trobadour van het schaakspel. Leeuwarden 1994, 9
10) Spielmann, Rudolf: Vom Krankenlager des Königsgambits, Kagans Neueste Schachnachrichten 1924, Nr. 3, 21-36
11) Wiener Schachzeitung 1936, 345