REISEN IM SKRIPTORIUM

Von Harry Schaack

Monté Classical Era of Modern Chess Cover

Peter J. Monté,
The Classical Era of Modern Chess,
Mc­Farland & Company 2014,
Hardcover, 594 S.,
48,25 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag McFarland & Company zur Verfügung gestellt.)

Als Peter Monté 1990 eine Geschichte des Königsgambits zu schreiben begann, konnte er nicht ahnen, dass sich sein Projekt zu einer Lebensaufgabe auswächst, die ihn die nächsten 25 Jahre beschäftigt. Freilich blieb es nicht bei der Beschränkung auf das Königsgambit, denn sein 2014 erschienenes 600-seitiges Werk widmet sich der Classical Era of Modern Chess. Es ist die wohl bislang gründlichste Untersuchung zu den frühsten Schachpublikationen, angefangen von Lucena bis hin zu Gioacchino Greco unter Einbeziehung aller bekannten Manuskripte. Dabei zeigt der Autor nicht nur, wie die Schachgeschichte, sondern auch die Eröffnungstheorie und die Evolution des Regelwerks „vorangeschrieben“ wurden. Bei seinen sorgfältigen Recherchen zieht Monté sämtliche Sekundärliteratur zu Rate, so dass das Werk auch zu einer kommentierten Bibliographie geworden ist. Und da die Autoren zu den bedeutendsten Schachspielern ihrer Zeit gehörten, liefert Monté auch die bislang besten Biographien für die Wegbereiter des modernen Schachs.

Zunächst rekonstruiert der Autor detailliert anhand archäologischer Funde und Manuskripte, auf welchen Wegen sich das Schach mit Beginn des 8. Jahrhunderts vom Mittelmeer bis nach England verbreitete. Die Araber brachten Ende des ersten Jahrtausends das shatranj, einen Vorläufer des Schachs, mit nach Europa. Einige Figuren (Dame, Läufer und Bauer) waren in ihrer Reichweite noch beschnitten und das Spiel langsam. Bereits im 9. Jahrhundert begann man die Anfangsphase zu überspringen und setzte gleich mit spannenderen Stellungen, den sogenannten Tabiya ein. Bereits im 12. und 13. (Bauer und König), vor allem aber im 15. Jahrhundert, wo die kurzschrittigen alfil und fers zu den machtvollen Läufer und Dame werden, gab es gravierende Regeländerungen. Die damit verbundene Dynamik des „modernen“ Schachs machte die alte Form rasch obsolet. Die Ursprünge des neuen Spiels werden zwischen 1430 und 1495 vermutet. Monté glaubt jedoch, dass das moderne Schach in den Jahren zwischen 1480 und 1492 in Spanien entstanden ist, auch wegen der starken Königin Isabella I.

Montés Studium beginnt mit zwei verlorenen Schach-Dokumenten. Das Scachs d’amor, dessen Datierung unklar bleibt, der Vicent (1495) sowie das erhaltene Manuskript Le Jeu des Escheés de la Dame Moralisé (Ende des 15 Jh.) sind die ältesten Quellen für das moderne Schach. Das erste gedruckte Schachbuch ist der Lucena von 1497, der neben zahlreichen Kompositionen auch die modernen Regeln erklärt und einige Partien enthält. Es existieren vermutlich nur noch etwas mehr als zwanzig Exemplare, die meisten in öffentlichen Bibliotheken. Im Lucena sind schon fast alle heutigen Regeln aufgeführt. Auch werden Eröffnungen diskutiert, die wir bis in die Gegenwart kennen. Einige davon (wie Französisch) sind Relikte des alten Spiels mit kurzzügigen Figuren, die modernen Eröffnungen mit dem langschrittigen Läufer sind z.B. Italienisch und Spanisch. An einigen fehlerhaften Kompositionen erkennt man, dass Lucena vermutlich die neuen Regeln noch nicht verinnerlicht hatte. Oft stehen alte und neue Kompositionen (entnommen aus älteren Quellen) nebeneinander. Monté kann aufgrund der Abweichungen im Lucena die verlorengegangene Vorlage des Vicent zum Teil rekonstruieren. Zudem vermutet er, dass Lucena zu seinem gedruckten Werk noch zwei Manuskripte geschrieben hat.

Der Damiano, erschienen in Rom 1512, ist neben Vidas Scacchia Ludus mit acht Auflagen (die sich alle voneinander unterscheiden) nicht nur das am häufigsten wiedergedruckte Schachbuch des 16. Jahrhunderts, sondern bis Anfang des 17. Jahrhunderts auch das am weitesten verbreitete. Dennoch ist Damianos Beitrag zur Fortentwicklung des Schachs kaum erwähnenswert, weil die meisten Diagramme aus älteren Quellen stammen.

Eines der einflussreichsten Bücher war dagegen das von Ruy López von 1561. Der Spanier gilt als der „Vater der Eröffnungstheorie“ und obwohl von ihm die erste Königsgambit-Theorie stammt, ist kein Abspiel nach ihm benannt.

Auch Gustavus Selenus (1579-1666) – ein Anagramm von Herzog August, dem Gründer der berühmten Bibliotheca Augusta in Wolfenbüttel – beruft sich auf Ruy López. August veranlasste seinen Agenten Hainhofer ab 1612 zur Grundlage seines geplanten Werks alle verfügbaren Schachbücher zu erwerben. Sein Schach – oder KönigsSpiel, das kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg 1616 veröffentlicht wurde, ist das erste deutschsprachige Schachbuch.

Bleibt noch Greco (etwa 1600-1635) zu nennen, der eine herausragende Rolle in der Geschichte des Schachs einnimmt. Obwohl er keine hohe Bildung genossen hatte, war der weitgereiste Kalabrese der erfindungsreichste und produktivste Autor der klassischen Ära.

Montés Arbeit gleicht zuweilen einer Detektivgeschichte im Skriptorium. Er spürt intertextuelle Indizien auf, um verschwundene Dokumente, falsche Zuordnungen oder Autorenschaft und Herkunft eines Manuskriptes zu belegen. Dabei legen die Autoren der klassischen Ära des modernen Schachs keinen Wert darauf, die Quellen ihrer Informationen preiszugeben. Zu jener Zeit gehörte Erfindungsreichtum nicht zu den Qualitäten, unverfrorener Plagiarismus war üblich. Sowohl Lucena als auch Damiano sind Plagiate, wie später auch Porto, der Damiano unter eigenem Namen veröffentlichte. Polerio, Selenus und Carrera bleiben löbliche Ausnahmen.

Der Autor gibt detaillierte Informationen zur Entwicklung des Regelwerks. Vom doppelten Bauernsprung über die En Passant-Regel zum Königssprung und zur Rochade, die nicht vor 1560 erwähnt wird, und anfangs noch in drei verschiedenen Formen üblich war. Im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts hatte sie sich überall in Europa durchgesetzt.

Monté gibt zusätzlich viele kurze Abrisse zu Schach in Kunst und Literatur, zu den ersten Caféhäusern oder zu Notationsformen. Auch manches historische Missverständnis klärt er auf, z.B. findet er zwar Belege für Partien, die zwischen iberischen und italienischen Spielern am spanischen und portugiesischen Hof gespielt wurden, aber keinen Belege für ein internationales Turnier im 16. Jahrhundert, wie es oft kolportiert wird.

Am Ende präsentiert Monté eine komplette Auflistung der Eröffnungstheorie, wie sie sich in den Werken der klassischen Ära darstellt, was einen bemerkenswerten Überblick über den Kenntnisstand jener Zeit gibt.

Obwohl gelegentlich das Textbild durch die vielen Diagramme, Abbildungen und langen Anmerkungen etwas unübersichtlich gerät und man nicht gleich weiß, wo der Fließtext weiterläuft, sollte das herrliche Buch vom McFarland Verlag, wo schon viele bedeutende Forschungsprojekte realisiert wurden, in keiner Sammlung von Geschichtsinteressierten fehlen. Es ist nicht nur ein unersetzliches Referenzwerk, sondern selbst ein bibliophiler Prachtband.