JEDER MENSCH HAT SEIN SCHICKSAL

Ein Interview mit Wassily Smyslow, Weltmeister von 1957 bis 1958

Das Siegerteam der Olympiade 1954 in Amsterdam. V.l.: Kotow, Geller, Smyslow, Bronstein, Keres, Botwinnik, Bondarewski

Sie wurden 1921 geboren, Keres 1916 und so sind Sie beide vom Alter nicht weit auseinander. Erinnern Sie sich noch, wie Sie Keres kennen gelernt haben?
Das erste Mal trafen wir uns 1939 beim Trainingsturnier Leningrad/Moskau. Später saßen wir uns häufig am Brett gegenüber, aber unser Verhältnis war sehr freundschaftlich und wir haben uns auch privat getroffen. Kurz vor seinem Tod, bevor er zum Turnier nach Vancouver fuhr, besuchte er mich und lud mich zu seinem 60sten Geburtstag nach Tallinn ein. Leider starb er nach der Rückkehr aus Vancouver. Ich fuhr zur Beerdigung nach Tallinn, und wie versprochen besuchte ich ihn auch an seinem 60sten Geburtstag, im Januar 1976, an seinem Grab. Ich habe ihn in bester Erinnerung, als einen sympathischen und außerordentlich angenehmen Menschen.

Bei Keres‘ Beerdigung 1975 halfen Sie, den Sarg zu tragen. Welche Eindrücke sind Ihnen in Erinnerung geblieben?
Als der Wagen mit dem Sarg durch Tallinn fuhr, waren unglaublich viele Menschen anwesend. Die Esten verabschiedeten ihn wie einen Nationalhelden. Die Beerdigung hat sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt.

Haben Sie noch Kontakt zu seiner Witwe oder zu seinen Kindern?
Als 1986 zu Ehren von Paul Petrowitsch ein Gedenkturnier in Estland stattfand, habe ich mich mit der ganzen Familie getroffen, nur seine Frau Maria, die krank war, war nicht dabei. Es war ein herzliches Wiedersehen. Aber heute aber bin ich zu alt und fahre nirgendwo mehr hin.

Sie haben eine Leidenschaft für Studien und auch Paul Keres hat gerne Probleme komponiert. Haben Sie sich je darüber unterhalten?
Auf diesem Gebiet hat Paul Petrowitsch alleine gearbeitet. Er hat einige sehr gute Kompositionen hinterlassen. Meinen eigenen Lebensweg begleiten Studien bis heute und in den letzten vier Jahren habe ich acht Studien komponiert. Insgesamt sind es jetzt 101, die noch dieses Jahr als Buch erscheinen werden.

Wie würden Sie Keres als Mensch charakterisieren?
Paul Petrowitsch war ein bescheidener Mann mit einem Gespür für andere. Er hat sich nie beschwert und blieb immer beherrscht. Er war einfach ein sehr ausgeglichener Mensch.

Sie sind lange Zeit nicht mit Keres‘ Spiel zurecht gekommen und haben viele Partien gegen ihn verloren. Danach kehrte sich das ins Gegenteil. Woran lag das?
Es gibt verschiedene Perioden des menschlichen Schaffens, und es kann einfach sein, dass ich später einen guten Lauf gegen ihn hatte. Man kann das nicht so genau sagen, wir haben so oft gegeneinander gespielt. Insgesamt ist unsere Bilanz recht ausgeglichen.

Eine der wichtigsten Partien in Ihrer und in Keres‘ Laufbahn haben Sie in Zürich 1953 gespielt. Erinnern Sie sich noch an Ihre Gefühle während der Partie?
Diese Partie in Zürich 1953 zeichnete sich durch einen kompromisslosen Kampf aus. Paul Petrowitsch wollte unbedingt gewinnen, denn mit einem Sieg hätte er die Tabellenführung übernommen. Daher hat er mit großem Druck gegen meinen König gespielt und ich musste mich genau verteidigen. Während der Partie überlegte ich im entscheidenden Moment fast eine Stunde, ob ich sein Turmopfer annehmen sollte oder nicht. Da ich die Komplikationen nicht genau vorhersehen konnte, lehnte ich schließlich intuitiv ab, und machte einen Zwischenzug, der mir Gegenspiel gab. Paul hätte noch Remis haben können, aber mehr auch nicht. Schließlich verlor er, weil mein Gegenangriff zu stark wurde. Die Partie hatte ein hohes Niveau. Für mich war dieses Turnier, das zu den stärksten der Schachgeschichte zählt, das beste Turnier meiner Laufbahn, der Höhepunkt meines schachlich-kreativen Schaffens.

Haben Sie mit Keres auch schachlich gearbeitet?
Vor den Olympiaden trafen sich alle Teammitglieder zur gemeinsamen Vorbereitung. Gelegentlich haben wir zu zweit analysiert. Nachdem Paul Petrowitsch 1969 Schwierigkeiten bekam, verpflichtete ich ihn als meinen Sekundanten und wir trainierten intensiv.

Sie sprechen über die Vorfälle in Prag 1969. Können Sie etwas mehr darüber sagen?
Paul Petrowitsch hatte die strengen Vorschriften unserer Funktionäre missachtet, als er sich in Prag mit seinem Freund Ludek Pachman traf, der als Staatsfeind galt. Sonst hatte man ihm nichts vorzuwerfen, aber er hatte gegen die Regeln verstoßen. Sie verhörten ihn, er durfte ein Jahr keine Turniere im Ausland spielen, aber weitere Konsequenzen gab es nicht. Er sagte mir, das Verhör sei nichts Ernstes gewesen, eine Formalität. Die Anschuldigungen waren einfach lächerlich. Paul Petrowitsch war in jeder Beziehung ein akkurater Mann. Er selbst durfte dann zwar für ein Jahr nicht mehr im Ausland spielen, doch als mein Sekundant begleitete er mich zu verschiedenen Turnieren.

Können Sie etwas über den Spielstil von Paul Keres sagen? Was zeichnete ihn aus?
Unsere Funktionäre verlangten von uns bei Olympiaden maximalen Einsatz. Keres spielte immer mit viel Energie und erfüllte die Erwartungen. Bei seinen zahlreichen Olympia-Teilnahmen für die UdSSR hat er nur drei Partien verloren und in Amsterdam 1954 erzielte er sogar das fantastische Ergebnis von 13,5 aus 14 Partien. Er hatte einen lebhaften Angriffsstil, wie Aljechin, war aber auch ein genauso feiner Positionsspieler. Man kann sein Spiel nicht einseitig betrachten, aber von seinem Charakter her war er ein Kombinationsgenie.

Was waren seine größten Verdienste für das Schach? Welches schachliche Erbe hat er hinterlassen?
Als Spieler hat er die Schachgeschichte natürlich geprägt. Außerdem war er ein herausragender Theoretiker, wobei er vor allem bedeutende Beiträge zur Spanischen Partie geleistet hat. Und sein Buch über das WM-Turnier 1948 ist ganz hervorragend und besticht durch fantastische Partiekommentare. Sein Spiel und seine analytische Kunst bewegen sich auf hohem Niveau.

Man sagt, ihr Verhältnis zu Botwinnik sei lange Zeit angespannt gewesen. Ebenso ging es Keres. Können Sie etwas über dessen Verhältnis zu Botwinnik sagen?
Obwohl wir freundschaftlich verbunden waren, war Keres doch sehr zurückhaltend. Ich habe von ihm nie etwas Negatives über andere gehört. Im Laufe der Zeit hat sich das Verhältnis zwischen Michail Moissejewitsch und Paul Petrowitsch neutralisiert, denn beide zollten sich gegenseitigen Respekt.

Sie haben mit Keres oft für die Sowjetunion gespielt. Wurde deutlich, dass Keres Este war und kein Russe?
Alle liebten Paul Petrowitsch. Er gehörte zu unserer großen Völkerfamilie. Wir spielten immer mit großer Motivation für unsere Nationalmannschaft.
Einmal gab es einen Vorfall, der ihn vielleicht als Este diskriminierte. Er war ein guter Tennisspieler und gehörte zum estnischen Nationalteam. Als Schachgroßmeister war er mit Privilegien ausgestattet und durfte u.a. bei Bahnreisen stets 1. Klasse fahren. Als er jedoch einmal als Tennisspieler zu einem Turnier fuhr, wurde er als gewöhnlicher Sportler eingestuft und musste Zweiter Klasse fahren. Das hat mir Paul Petrowitsch selbst erzählt. Er war ein Mann mit Stolz und betrachtete die Situation mit Humor.

Keres gehörte von 1935 bis 1965 zur absoluten Weltspitze, wurde in vier Kandidatenturnieren Zweiter, durfte aber nie um den WM-Titel spielen. Woran lag das Ihrer Meinung nach?
Paul Petrowitsch war immer ganz oben, aber Weltmeister wurde er aus verschiedenen Gründen nicht. Botwinnik sagte einmal, dass ihm in entscheidenden Moment die Nerven versagten und es ihm an Entschlossenheit mangelte. Ich kann das nicht bestätigen. Das ist die Meinung von Michail Moissejewitsch. Die Bezeichnung „Ewiger Zweiter“ ist auch nicht ganz korrekt, denn Keres hat eine Reihe wichtiger Veranstaltungen gewonnen. Auf der anderen Seite gab es andere Wunderkinder wie Reschewsky, die es auch nie ganz nach oben geschafft haben. Sehen Sie, ich habe einen eigenen Blick auf diese Dinge. Ich glaube, es war Schicksal. Jeder Mensch hat sein Schicksal, geht seinen eigenen Weg. Entweder führt er ganz nach oben oder Hindernisse tauchen auf.

Die Fragen stelten Harry Schaack und Johannes Fischer
Dolmetscher und Übersetzer: Max Schmidt