EINER DER LETZTEN HÖHEPUNKTE DER ROMANTISCHEN EPOCHE

Von Harry Schaack

Haas Baden-Baden 1870 Cover

Stefan Haas,
Das Schachturnier zu Baden-Baden 1870.
Der unbekannte Schachmeister Adolf Stern.
Gebunden, 182 Seiten,
Schachzentrale Rattmann 2006,
19,90 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Schachzentrale Rattmann zur Verfügung gestellt.)

1870 fand in Baden Baden das erste große Internationale Turnier auf deutschem Boden statt. Mit den Teilnehmern Anderssen, Steinitz, Blackburne, Neumann, Paulsen, de Vere, Winawer, Minckwitz, Rosenthal und Stern maßen sich die besten Spieler der Welt in der deutschen Kurstadt. Obwohl diese Veranstaltung zu den letzten Höhepunkten der romantischen Epoche zählte und zusammen mit Paris 1867 und Wien 1873 eine Trilogie an ruhmreichen Turnieren aus den frühen Tagen des Schachgeschichte bildete, sind heute die bizarren Umstände der Durchführung des Turniers fast vergessen. Ein fehlendes Turnierbuch mag dazu beigetragen haben, vor allem aber der Deutsch-Französische Krieg.

Stefan Haas hat nun durch jahrelange Recherchen in badischen Archiven und Bibliotheken verschüttete Fakten zutage gefördert. Er bildet nicht nur das schachliche Geschehen ab, sondern stellt gleichzeitig die politische Situation dar. Ihm gelingt es, den Krieg von 1870/71 aus der Perspektive Baden-Badens zu schildern. Chronologisch werden die Ereignisse im Turniersaal mit den wichtigsten Kriegsereignissen konfrontiert. Die Publikation wird demnach vor allem Leser ansprechen, die nicht nur an Schachgeschichte, sondern auch am historischen Kontext interessiert sind.

Haas hat alle verfügbaren Partien mit samt den Originalkommentaren zusammengetragen, einige wenige sind bis heute unauffindbar und wohl für immer verloren. Vorbildlich ist der Anhang, indem sich Statistiken zu Turnieren und Kongressen zwischen 1841 und 1880 finden, zudem ein Glossar, Kurzbiographien, u.v.m.

Der zweite Teil des Buches ist der Biographie des heute vergessenen Schachspielers Adolf Stern gewidmet. Er war einer der Teilnehmer, musste aber nach nur vier Partien abreisen, weil ihn das bayrischen Regiment rekrutierte. Insofern hatte der Krieg auch direkte Auswirkungen auf das Turnier.

Mit der Würdigung Sterns wird gleichzeitig die Entstehung des Deutschen Schachbundes mit seinen Vorläufern geschildert. Obwohl sich Stern recht früh vom aktiven Schach zurückzog, war er als einer der frühen Funktionäre im Amt des Präsidenten des Mannheimer Schachclubs als auch als Redakteur der Süddeutschen Schachzeitung, sowie als Präsident des Süddeutschen Schachbundes tätig.

1870 steckte die Organisationen von Schachveranstaltungen noch in den Kinderschuhen. Nach den großen Turnieren von London 1851 und 1862 sowie dem Pariser Turnier von 1867, die alle mit den ersten Weltausstellungen verbunden waren, (wie übrigens auch Wien 1873), ging Baden einen anderen Weg. Es war nach Paris das zweite Turnier, das aus rein privater Initiative ins Leben gerufen wurde. Die damaligen Sponsoren waren Reiche und Adlige, an denen es dem bekannten Kurort nicht mangelte. Mit Fürst Stourza, der bereits drei Jahre zuvor das Pariser Turnier unterstützt hatte, war ein Adliger Vorsitzender des Kongresskomitees. Daneben trat Ignaz Kolisch, der in Paris noch siegreich war, als Hauptorganisator auf. Und der Schriftsteller Turgenjew, der in Baden seinen Wohnsitz hatte, begleitete das Amt des Vizepräsidenten. Durch die potenten Gönner konnte alleine für den ersten Preis die enorme Summe von 3000 Frcs. ausgelobt werden, gefolgt von 600 und 400 für den Dritten.

Obwohl alle organisatorischen Bedingungen zum Besten bestellt waren, überschatteten die aktuellen politischen Ereignissen das Schachtreiben von Anfang an. Der durch die Emser Depesche ausgelöste Deutsch-Französischen Krieg fiel mit dem Turierbeginn zusammen. Einzig die stillschweigende Übereinkunft der damals noch mit „Ehre“ kämpfenden Truppen garantierte, keine Kurorte unter Beschuss zu nehmen, zumal Baden gerade bei französischen Gästen sehr beliebt war.

Die Szenerie muss skurril gewesen sein. Der Kurort war weitgehend verwaist, die meisten Gäste waren abgereist. Viele Einrichtungen waren geschlossen. Während sich die besten Spieler der Welt auf dem Schachbrett bekriegten, starben tausende Soldaten an der unweit gelegenen Front.

Wegen der zunehmenden Zuspitzung des Kriegsgeschehens kam die Berichterstattung über das Turnier nach einigen Tagen zum Erliegen. Als wichtigste Quelle gilt heute die Schachzeitung, in der der Turnierteilnehmer und Redakteur Johannes Minckwitz nach dem Turnier viele Fakten überliefert hat.

Es sind nicht zuletzt die zahlreichen Nebeninfos, die dieses Turnierbuch zu einem ausgezeichneten Werk machen. Der Autor geht z.B. der Frage nach, wieviel das Preisgeld in Baden umgerechnet Wert war. Man erfährt, dass es in der Kurstadt zu jener Zeit gleich zwei Telegrafen-Büros gab, von wo sich die politischen Neuigkeiten schnell verbreiteten.

Daneben ist in diesem Turnierbuch alles Wissenswertes wie Kurzbiographien der Teilnehmer ebenso wie das Kongressprogramm oder die Turnierregeln zusammengetragen. Ganz nebenbei erfährt man Details über andere Turniere jener Zeit. Die Organisatoren in Baden vermieden Fehler vorangegangener Veranstaltungen und verbesserten das Reglement. Die sportliche Einstellung war noch nicht kultiviert, weshalb sich bei früheren Rundenturnieren zahlreiche Teilnehmer vom Turnier zurückzogen, sobald sie keine Chancen mehr auf den Sieg hatten. Außerdem dauerten die Turniere in London 1851 und 1862 jeweils um die 50 Tage. Bei früheren Turnieren wie 1867 in Paris gab es keinen festen Rundenplan. Die Spieler suchten sich ihre Gegner bzw. bekamen einen anwesenden Teilnehmer zugeteilt; Abwesenheit blieb folgenlos. Daher spielten manche Teilnehmer zum Ausgleich mehrere Partien pro Tag. Freilich blieb es bei diesen Regularien nicht aus, dass viele Partien kampflos entschieden wurden. Daher gab es in Baden feste Rundenansetzungen; bei nicht Einhaltung verlor man kampflos.

In Paris 1867 wurde erstmals mit Zeitüberschreitung gespielt. Ein Vergehen führte aber nicht zum Partieverlust, sondern hatte „empfindliche“ Geldstrafen zur Folge. Viele Teilnehmer konnten am Ende des Turniers die Zeche nicht zahlen. Auch in Baden war eine Partie nicht unbedingt verloren, wenn die Zeit um war (Plättchen gab es damals noch nicht). Die noch jungen Schachregeln nahm man noch nicht ganz so ernst, meist entschied die Kulanz.

Ein anderes Loch im damaligen Regelwerk war das Fehlen der Remisregel bei Zugwiederholung. Um sich ein Zeitpolster zu verschaffen, ergaben sich nicht selten schier nicht enden wollende Wiederholungssequenzen, die die Partien Stunden in die Länge zogen. Wie sehr eine solche Schikane auch in Baden nicht geringen Einfluss auf den Turnierausgang hatte, zeigt das erschütternde Partiendokument der Begegnung Steintz gegen Neumann. Eine Kuriosität, da Steinitz gleich mehrmals die Möglichkeit zur Schaukel nutzte. In einer 124-zügigen Mammutpartie rang er den bis dahin aussichtsreich postierte Neumann nieder, der nach eigenem Bekunden danach für den Rest des Turniers „zum Spielen unfähig“ war.

Eine der schönsten Partien gelang dem Turniersieger gegen seinen hartnäckigsten Kontrahenten.

STEINITZ – ANDERSSEN

20.b4 Lxb4 21.cxb4 Dxb4+ 22.Ke2 a2 23.Ld2 Db5 24.Txa2 Sc5 25.Txa6 Dxa6 26.Lb4 Tb8 27.Lxc5 Tb2+ 28.Ke3 Da5 29.Td1 Dxc5+ 30.d4 exd4+ 31.Kf4 h6 32.Sh3 Te8 33.Dd3 g5+ 34.Kf3 g4+ 35.Kg3 Txe4 36.Df1 De5+ 37.Kh4 gxh3+ 38.Kxh3 Tb3+ 39.g3 Tf4 40.Sxh6+ Kf8 41.Dc4 Th4+ 42.Kg2 Txh2+ 43.Kxh2 Dxg3+ 44.Kh1 Dh3+ 45.Kg1 Tg3+ 0-1

Es sind nicht nur die Fakten, sondern auch der Erzählstil des Autors, der stets den Spannungsbogen beibehält und die Lektüre nie langweilig macht. Mit dieser Publikation wiederaufersteht die gediegene Atmosphäre einer Kurstadt des 19. Jahrhunderts.

Ein kleiner Wermutstropfen ist der Verzicht auf direkte Quellenangaben im Text, wenngleich die zu Rate gezogenen Dokumente und Literatur in der Bibliographie aufgeführt sind. Dagegen sind die historischen Anmerkungen zu den Partien vorbildlich. Das in bewährter Qualität des Rattmann-Verlages gebundene Buch ist sehr empfehlenswert und bietet viele Details für den schachhistorisch Interessierten.

Bleibt abschließend zu bemerken, dass das Turnier zwar ein schachlicher Erfolg war, sich aber weitgehend unter Ausschluss der öffentlichen Wahrnehmung vollzog. In Baden gewann Anderssen vor Steinitz, Blackburne und Neumann. Der teilnehmende Rosenthal konnte nach dem Turnier zunächst nicht in seine Heimat Paris zurückkehren. Am Ende des Krieges nach Unterzeichnung des Friedensvertrages am 10. Mai 1871 in Frankfurt hatte Frankreich 140.000, Deutschland etwa 50.000 Tote zu beklagen.