EINE FLEXIBLE GESCHICHTE

KEMPELENS TÜRKE: EINE SCHACH-METAPHERN-MASCHINE AUS DEM SPÄTBAROCK

Seit über 200 Jahren wird die Geschichte des schachspielenden Pseudoautomaten des Baron Wolfgang von Kempelen (1734 – 1804) erzählt. Warum eigentlich, was fasziniert wann an der Geschichte?

Von Ernst Strouhal

Kempelens Türke

I

In der Duna-Straße 1 im Zentrum Preßburgs erinnert im Sommer 2002 nichts mehr an die Existenz Wolfgang von Kempelens, doch als Carl von Kempelen nach dem Tod seines Vaters – er war am 26. März 1804 im 71. Lebensjahr in Wien verstorben – die Werkstatt im zweiten Stock des Spindlerhauses betrat, könnte sich ihm ein verwirrendes Bild diversifizierender Interessen und Begabungen des Vaters geboten haben. (s. Anm. 1)
Zunächst amtliche Schriften aus 43 Jahren Tätigkeit im Dienste Maria Theresias und Josephs II., ein Poesiealbum, Radierungen und Stiche, Dekrete zum Bau von Dampfmaschinen, Aufzeichnungen über technische Experimente, schließlich – in nahezu allen europäischen Sprachen – Zeitungsausschnitte, Broschüren und Flugblätter, in denen der Name „Kempelen“ (oder „Kempele“, „Kempilin“ oder „Kempel“) eine zentrale Rolle spielte. Weiter das Schauspiel Andromeda und Perseus, ein einziges Mal aufgeführt 1781 am k. k. Nationaltheater und dann rasch vergessen, sowie ein Buch mit dem Titel Wolfgang von Kempelen k. k. wirklichen Hofraths Mechanismus der menschlichen Sprache nebst der Beschreibung seiner sprechenden Maschine aus 1791.

Neben den Papieren Naturalien, Stichel, Schreiner-, Schlosser- und Uhrmacherwerkzeuge und zwei Maschinen: Ein unscheinbares Kästchen mit Blasebalg und einem Schalltrichter aus arabischem Gummi, das, so hieß es, selbständig sprechen konnte, wenn man es richtig zu bedienen wusste. Mit der Stimme eines Kindes konnte die Kempelensche Sprechmaschine einzelne Worte aufsagen und wiederholen. Gedacht war sie für Gehörlose, Kempelen hatte im Laufe von mehr als zwanzig Jahren immer neue Verbesserungen angebracht, war aber nie zu einem Ende gekommen. Einige Laute hatte die Maschine trotz aller Phantasie und Disziplin ihres Erziehers nie zu artikulieren gelernt.

Das zweite Gerät war – betrachtet man seine äußere Form – bei weitem eindrucksvoller als das sprechende Kästchen. Eine menschengroße Puppe saß vor einem Kasten, in der rechten Hand eine Pfeife, vor ihm ein Schachbrett mit Figuren. Obwohl die Konstruktion des „Türken“, wie man den mechanischen Schachspieler auf Grund seiner orientalischen Tracht nannte, nur eine Episode inmitten der anderen Projekte seines Erfinders war, vielleicht sogar keine besonders erfreuliche, handeln fast alle zeitgenössischen Quellen, in denen der Name Kempelen erwähnt wird, ausschließlich von dieser Figur.

II

Theodor Heuss bezeichnete Wolfgang von Kempelen einmal als „Randfigur der Geschichte“. Kempelen gehörte der Generation der aufgeklärten Beamten Maria Theresias an und war als Hofsekretär und Ratsmitglied der ungarisch-siebenbürgischen Hofkammer zwar mit wichtigen Vorhaben des Herrscherhauses in Ungarn und bei der Besiedlung des Banats betraut, die Bedeutung eines Sonnenfels oder van Swieten erlangte er allerdings nicht. Von den vielen bescheidenen Spuren, die Kempelen in der Geschichte hinterlassen hat, ist sein schachspielender Pseudoautomat nicht nur die deutlichste sondern auch die vieldeutigste geblieben. Kempelens schachspielende Puppe war eine technische Sensation. Dabei war schon Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts evident, und Kempelen hatte selbst nie ein Hehl daraus gemacht, dass es sich bei dem Androïden um einen Pseudoautomaten, um eine „Täuschung“ handelte: In der Maschine war ein Mensch verborgen.

Dennoch wird die Geschichte des Bluffs wieder und wieder erzählt, über keinen Automaten des 18. Jahrhunderts wurde annähernd so viel publiziert. Ken Whylds Bibliographie aus 1994 weist mehrere hundert Einträge auf, das Wiener Kempelen Archiv umfasst, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, rund 1200 Dokumente. (2)

Die Eckdaten der Geschichte sind rasch zusammengefasst. Kempelen präsentierte den Türken 1769/1770 am Hofe Maria Theresias und gab zu Beginn der 70er Jahre einige Vorführungen in Wien und Preßburg. Auf seiner ersten Grand Tour durch Europa von 1783 bis 1784 zeigte Kempelen den Türken zunächst in Regensburg und Augsburg, danach in Paris und London und schließlich auf dem Rückweg in Leipzig und Frankfurt. Nach dem Tod Kempelens und einem Zwischenspiel im Besitz von Eugéne de Beauharnais integrierte der Mechaniker, Schausteller und Musiker Johann Nepomuk Maelzel (1772 – 1838) den Türken ab 1808 in seine Automatenshow. Er präsentiert den Türken ab 1818 in Paris, London und Amsterdam. 1826 trifft Maelzel mit dem Schachspieler in den USA ein und lässt ihn, von seiner Ausstellungshalle in Philadelphia aus agierend, in den folgenden Jahren in mehreren Städten an der Ostküste der USA und in Kuba spielen. Nach dem Tod Maelzels 1838 wird der Türke nach einigen Jahren in Privatbesitz im Chinese Museum in Philadelphia aufgestellt, wo er 1854 bei einem Brand zerstört wird.

Von seiner Konstruktion her war der Türke nicht mehr als eine eklektizistische Apparatur. Zwar hatte Kempelen geschickt Elemente der Zauberkunst, der Mechanik und des Magnetismus miteinander kombiniert und eine überzeugende, interaktive Form der Präsentation gewählt, doch abgesehen von der langen Spielzeit des Türken unterscheidet sich seine äußere Biographie nur wenig von der anderer Unterhaltungsautomaten eines Tendler oder Tschuggmall, von den Experimenten der wissenschaftlichen Schausteller seiner Zeit oder von den Zaubertricks eines Maillardet, Pinetti oder Robert-Houdin. Und doch erzeugte der Türke vom Jahr seiner ersten Präsentation an bis zur Gegenwart ein unvergleichlich stärkeres Echo als andere Automaten. Über Jahrzehnte hinweg bot er Anlass zu Spekulationen philosophischer und technischer Natur, zur Bewunderung des Genies seines Schöpfers gleichermaßen wie zur Kritik an der Taschenspielerei und sogar am versuchten Betrug am Volk. (3)

Denn neu war das Motiv, das Kempelen für die Tätigkeit seines Androïden wählte. Während Vaucansons berühmte Ente gackerte, mit den Flügeln schlug und tierischen Stoffwechsel vortäuschte, die Künstlerkinder aus der Werkstatt von Jaquet-Droz wie die Allesschreibende Wundermaschine von Friedrich von Knaus nur Vorgegebenes reproduzierten, hatte Kempelens Schachspieler scheinbar von der Ratio Besitz ergriffen und das schwierigste aller Spiele, das Schachspiel, erlernt. Funktionierte sein Automat tatsächlich autonom, dann wäre er die „wunderbarste über jedwede Vergleichung turmhoch erhabene Erfindung der Menschheit“, wie Edgar Allan Poe 1836, allerdings lakonisch, bemerken wird.

Kempelens Kommentar zum Maschinentraum seiner Zeit war somit radikaler als der anderer Automatenbauer und blieb zugleich ambivalent: Zum einen simulierte sein Androïde durch das Schachspiel Intelligenz und eine nach Effizienz und Affektkontrolle strebende Lebensform, zum anderen aber war er, indem ein Mensch in der Maschine verborgen war, stets die Parodie auf diese neue politische Ökonomie des Körpers. Durch diese Ambivalenz erweist sich der Türke bis heute als flexible Metaphernmaschine, die in der Lage ist, allegorische Strukturen zu erzeugen, deren Elemente ständig neu codiert, kombiniert und aktualisiert werden können: Über die Türkenfigur wird das Motiv der Identität zwischen Mensch und Maschine (und der Sehnsucht nach einer Differenz) abgearbeitet, wird von der Hybris des Automatenbauers und von den Grenzen der Simulation erzählt und zugleich vom Sieg des Gauklers über eine fortschrittsgläubige, durch das Glücksversprechen der Technik blind gewordene Öffentlichkeit.

III

In der Romantik – in der wenig bekannten Traumschrift Etwas über den Kempelischen Schachspieler; eine Gruppe filosofischer Grillen des Regensburger Gymnasialdirektors Johann Philipp Ostertag aus 1783 wie in den Erzählungen und Satiren von E.T.A. Hoffmann und Jean Paul – sind die Kempelenschen Automaten zunächst groteske wie unheimliche Symbole verfehlten Lebens. Türke und Sprechmaschine fungieren als evokatorische Objekte, durch die die Schäden der Modernisierung durch die Industrielle Revolution ebenso wie das Philistertum einer erstarrten, von Staats- und Polizeiapparat beherrschten Gesellschaft sichtbar werden. Kempelens spielende und sprechende Maschinen ersetzen den Menschen, allerdings nur indem er selbst geistlos und mechanisch geworden ist. (4)

In Hoffmanns Erzählung Die Automate in den Serapionsbrüdern aus 1819 überlebt Ferdinand die Begegnung mit einem Kempelenschen Automat, eine poetische Verdichtung von Schach- und Sprechmaschine, nur knapp. Ferdinand fühlt sich vom „mirakulösen Türken (…) im Innersten verletzt“, „von einer grauenhaften Macht durchschaut“. Die Automaten erscheinen als die „wahren Standbilder eines lebendigen Todes oder eines toten Lebens“, durch ihre Menschenähnlichkeit, dem „tollen Nachäffen des Menschlichen“, gerät die Identität des Protagonisten in eine lebensbedrohliche Krise.

In Jean Pauls satirisch-philosophischem Traktat Menschen sind Maschinen der Engel sind die Menschen nur Maschinen erster Ordnung (von Engeln geschaffen, um ihren Bedürfnissen zu dienen); der Schachmaschine, einer Maschine zweiter Ordnung, „die H. v. Kempele erfand und die man wol gar bewundert“, sind sie jedoch so ähnlich, dass keine Differenz zwischen Maschine erster und zweiter Ordnung ausgemacht werden kann. Der Mensch, sei er Schachspieler oder Prediger, ist vollständig durch die Maschine, die Schach- oder Betmaschine, substituierbar. Das Motiv der Maschinalisierung der Gesellschaft und des Körpers wird von Jean Paul bereits in seiner chaplinesken Jugendschrift Der Maschinenmann nebst seinen Eigenschaften zum Thema. Alle Körper- und Sinnesfunkionen des Menschen werden von Automaten übernommen: Bei Konzerten spielen nicht nur mechanische Musiker, sondern hören auch zu, zur Beichte genügt es, sich eine „kempelische Sprachmaschine auf den Bauch“ zu hängen und selbst der Leser des Textes ist bereits eine Maschine. Das Pochen auf einer Differenz zwischen Mensch und Maschine durch Kultur ist für Jean Paul nur bedingt ein Ausweg. Im Gegenteil, gerade das Gesellschaftsleben wird von der Ersetzbarkeit durch die Kempelenschen Automaten bedroht. In Unterthänigste Vorstellung unser, der sämtlicher Spieler und redenden Damen in Europa entgegen und wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprechmaschinen werden – wie zuvor die Spinner und Weber – sogar die Spieler und die Gesellschaftsdamen arbeitslos. Das kulturelle Leben gelangt, da kaum mehr lebendig, durch Kempelens Spiel- und Sprechmaschinen endgültig zum Stillstand. Der aufklärerische „Prometheus“ Kempelen soll allerdings die Strafe seines mythologischen Vorbildes erleiden, denn „Prometheus, der so gut wie Herr von Kempele Menschen erschuf, wurde dafür abgestraft: aber H. v. K. hat auch eine Leber.“
Vom prometheischen Automatenbauer Kempelen, von der Aura und der Dämonie seiner Erfindungen ist hingegen in Edgar Allan Poes Tales of Ratiocination, als die Maschinenwelt bereits den Alltag der Menschen prägte, nichts mehr zu finden. In Maelzels Schach-Spieler aus 1836, wird nicht mehr die Frage diskutiert, ob schwarze oder weiße Magie vorliegt, am Türken ist bei Poe nichts mehr magisch: Der Automat, der vorgibt zu denken, ist ein charmanter Zaubertrick, aber nicht mehr, und kann durch genaue Beobachtung und einige logische Schlüsse problemlos entzaubert werden. In der zweiten Erzählung, in der Poe das Kempelen-Motiv verarbeitet, Von Kempelens Erfindung 1849, erscheint Kempelen als Alchimist, der vorgibt, Gold herstellen zu können. Doch Auswirkungen haben seine Experimente nicht mehr auf die Metaphysik oder auf die Forschung, sondern nur noch auf die Börsenkurse. Aus der mit großer Emphase formulierten Utopie der Mensch-Maschine ist bei Poe die Beschreibung einer Illusion geblieben: Der Automatenbauer ist ein profaner Schausteller, für den Alchimisten klicken zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur mehr die Handschellen.

IV

Die Kempelenrezeption ging im 20. Jahrhundert freilich weiter. Die künstlerische Bearbeitung des Automatenmotivs formulierte weiterhin und stärker denn je die Angstlust vor der mystisch-technischen Überwindung der Gegensätze von tot und lebendig, Materie und Geist, doch – was Kempelen betrifft – nur noch als Verlustanzeige: als „schöne“ Erinnerung an den Zauber des Automaten im ästhetischen Sinn: zu schön, um wahr zu sein.

Einmal zur Erinnerung geworden, erweist sich das Motiv des Türken, seiner Reisen und Abenteuer insofern als produktiv, als es die für den Unterhaltungsroman notwendigen Narrationsmuster in der exotischen Welt des Barock erzeugt. Zur Jahrhundertwende entsteht eine endlose Reihe von Erzählungen und Historienromanen. (5)
Eine zweite Tradition der Kempelen-Rezeption im 20. Jahrhundert bildet der Horror- und Kriminalfilm/roman. Der Türke erscheint vor allem als szenisch interessantes Requisit, wie in White Tiger (1923) von Tod Browning, in der russischen Fassung von Vladimir Nabokovs König Dame Bube (1928) oder in Jean Buñuels groteskem Maelzels Schachspieler (1965). Die Kempelensche Schachmaschine, in der sich ein Mensch verbirgt, bot zur Überschreitung sexueller Verbote stets eine adäquate Möglichkeit. Sehr früh wurde das Motiv des erotischen Verstecks des Liebhabers in der Maschine daher in Lustspielen und Vaudevilles dramatisiert, die spielerisch aufgegriffen werden. (6)

In der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts ist der Mensch – ob Mann oder Frau – weitgehend aus der Maschine verschwunden. Doch betrifft eine der seltenen historischen Reminiszenzen Alan M. Turings, des Begründers des Prinzips der Universalmaschine, Kempelen. In Digital Computers applied to Games erwähnt Turing den mechanischen Schachspieler als ironischen Vorläufer der Forschung zur Künstlichen Intelligenz. (7) Bereits ab 1941 experimentierte Turing mit dem Modell des Schachspiels. Aus dieser Zeit stammen die ersten Pläne zu einem Schachautomaten, was für Turing in Ermangelung der entsprechenden Hardware zunächst nicht den Bau einer physikalischen Maschine bedeutete, sondern ein Kompendium von Regeln im Sinne eines Buches, mit dem ein Mensch ohne jede Kenntnis des Spiels Schachspielen könnte. In den Diskussionen mit dem Schachmeister Hugh Alexander bezeichnete Turing einen solchen Spieler gerne als „Sklaven“ .

Fast zeitgleich mit Turings Experimenten erwähnt auch Walter Benjamin 1940 den Kempelenschen Pseudoautomat, und zwar an prominenter Stelle. In der ersten These Über den Begriff der Geschichte verwendete er das Gleichnis der Kempelenschen Maschine:

„Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, dass er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ‚historischen Materialismus‘ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“ (8)

Der großen puppenhaften Maschine des Materialismus wohnt nach Benjamin immer ein versteckt theologisches Element inne. Nur wenn sich die Puppe des häßlichen Zwerges besinnt und ihn in ihre Dienste nimmt, dann kann sie es „mit jedem aufnehmen“. Das Gleichnis mutet heute mit Blick auf das 20. Jahrhundert seltsam an: Wer von beiden hat wen in seinen Dienst genommen?

V

Ein Ende der Kempelen-Rezeption ist nicht abzusehen, auch wenn die Puppe den Menschen in ihrem Inneren nicht mehr braucht, um zu funktionieren, weder technologisch noch kulturindustriell: Roy Batty, der nietzscheanische Replikant in Ridley Scotts Blade Runner (1982), ist seinen Erfindern im Schachspiel weit überlegen, sogar der Protagonist, der Detektiv Deckert, erweist sich am Ende der Geschichte als Maschine. Und spätestens seit Kasparows Niederlage gegen Deep Blue 1997 ist abzusehen, dass die Mensch-Maschine-Konkurrenz eine Inszenierung der Vergangenheit ist. Nicht Schachspieler sondern Fußballer und Putzroboter sind die aktuellen Fruchtfliegen der KI-Forschung.

Dennoch, das Interesse am Türken scheint weiterhin ungebrochen. In kurzer Folge erscheinen literarische Kempelen-Verarbeitungen, unzählige Artikel und Türkenbiographien, zuletzt von Gerald Lewitt und Tom Standage. (9) Technikhistorisch ist seine Rezeptionsgeschichte heute ein Baustein zur Rekonstruktion der Kultur technischer Rationalität und zeigt anhand der Veränderung der Motivschichten über zwei Jahrhunderte hinweg verschiedene Aneigungs- und Verarbeitungsstufen technischer Erfahrungen an. Kultursoziologisch ist die kontroverse Debatte um Kempelens Schachspieler in der Spätaufklärung insofern von Interesse, als vieles daran in der rezenten Diskussion um Infotainment, Visualität und Multimedialität wieder aktuell erscheint. Kempelen war Schausteller und Aufklärer und wie Kempelen bewegen sich heute Wissenschaftler und Wissensvermittler auch im „rational entertainment“ ihrer Zeit: Die Begriffe mögen sich geändert haben, doch heute wie damals will ein anspruchsvolles Publikum durch „spannende“, und „erstaunliche“ Geschichten informiert und unterhalten werden. (10) Kempelen, lobte die deutsche Schriftstellerin Elise von Recke 1784 den Erfinder, sei kein Scharlatan, vielmehr er „räsoniert recht angenehm über die Mechanik seiner Maschinen“. (11)

Man könnte nun darüber spekulieren, woher die rezente Nachfrage nach (Technik-)Historie kommt. Vielleicht ist es gerade das tausendfach propagierte Ende der Geschichte im Singular, das den Bedarf an Geschichten wie dieser sprunghaft steigen lässt, man könnte fragen, wie beides zusammenhängt und welches kulturelle Narrativ hier bedient wird. Für das „angenehme Räsonieren“ über Technik eignet sie sich offenbar wie kaum eine andere.

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ANMERKUNGEN

(1) Zur Darstellung von Kempelens Werkstatt siehe: Karl Gottlieb von Windisch’s Briefe über den Schachspieler des Hrn. Von Kempelen, nebst drey Kupferstichen. Basel 1783 S. 17f. Die fiktive Szene könnte sich auch in Kempelens Wohnung in Wien Alsergrund oder auf seinem Landgut Gomba ereignet haben. Für viele Hinweise, Gespräche und Hilfen bin ich Brigitte Felderer, Ramón Reichert, Manfred Mittelbach und Ken Whyld zu großem Dank verpflichtet.

(2) Das Wiener Archiv an der Universität für angewandte Kunst Wien wird 2003 mit einer eigenen homepage online gehen und steht bereits jetzt ForscherInnen zur Verfügung. Wichtige Hinweise zu Quellen über Kempelens Biographie finden sich z.B. bei: Kempelen, B. (Hrsg.): Magyar nemes családok. Bd. 5. Budapest 1913, S. 428 – 431; Köszegi, I./Pap, J.: Kempelen Farkas. Budapest 1955; Kadletz, K.: Wolfgang von Kempelen.- In: Archiv der Geschichte der Naturwissenschaften (11/12, 1984), S. 583 – 587 und in den Aufsätzen von Zoltan Fallenbüchl 1970 – 1992. Bibliographien zum „Türken“ bei Walker, G.: New Treatise on Chess. London 1841; Allen, G.: The History of the Automaton Chess Player in America. A Letter adressed to William Lewis.- In: Fiske, D.: The Book of the First American Chess Congress. New York 1859, S. 420 – 484; Arrington, J. E.: John Maelzel, Master Showman of Automata and Panoramas.- In: The Pennsylvania Magazine of History and Biography (1/1960), S. 56 – 93; und vor allem in Whyld, K.: Fake Automata in Chess. Caistor 1994. Zur Sprechmaschine vgl. besonders: Gessinger, J.: Auge und Ohr. Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen. 1700 – 1850. Berlin, New York 1994; Pompino-Marschall, B.: Wolfgang von Kempelen und seine Sprechmaschine.- In: Forschungsberichte des Instituts für Phonetik und Sprachliche Kommunikation der Universität München (29/1991), S. 181 – 251; Ondrejovic, S.: Wolfgang von Kempelen and his Speaking Machine.- In: Human Affairs (2/1992), S. 161 – 172

(3) Die Geschichte der Hunderten Berichte umfasst im 18. Jahrhundert frühe Werbeschriften von Freunden und Korrespondenten (z.B.: Dutens, L.: Lettres sur un automate, qui joue aux échecs. Paris 1772; Windisch, K. G. v.: Nachricht von einer Maschine, welche das Schach spielet. In: Allergnädigst privilegierte Anzeigen aus sämmtlich kaiserlich und königlichen Erbländern. 3. Jg., Nr. 29 (21. Juli). Wien 1773, S. 230 – 232) und Enttarnungsversuche von Zauberkünstlern, Besuchern und Wissenschaftlern aus Deutschland, England und Frankreich (zB. Decremps, H.: The Conjurer Unmasked; or, La magie blanche dévoilée. London 1785 (= 1784); Hindenburg, C. F.: Ueber den Schachspieler des Herrn von Kempelen. Nebst einer Abbildung und Beschreibung seiner Sprachmaschine.- In: Leipziger Magazin zur Naturkunde, Mathematik und Oekonomie (3/1784), S. 235 – 269); Thicknesse, P.: The Speaking figure and the Automaton Chess-player, exposed and detected. London 1784; Boeckmann, J. L.: Versuch einer Erklärung des vom Hr. v. Kempele erfundenen mechanischen Schachspielers.- In: Wissenschaftliches Magazin für Aufklärung (1/1785), S. 72 – 91; Racknitz, J. F.: Ueber den Schachspiler des Herrn von Kempelen und dessen Nachbildung. Mit sieben Kupfertafeln. Leipzig, Dresden 1789 (= Reprint mit einem Nachwort von M. Faber, Dortmund 1983). Bezeichnend für die deutsche Spätaufklärung ist Friedrich Nicolais Kritik an Kempelen in der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek“ 1785 (vgl. Nicolai, F.: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz. Bd.6, 7. Berlin, Stettin 1785).

(4) Zum Automatenmotiv in der Romantik vgl. bes. Sauer, L.: Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik. Bonn 1983. Zit. wird i. f. nach den Ausgaben: Hoffmann, E. T. A.: Die Automate.- In: ders.: Die Serapionsbrüder. 2. Bd. Frankfurt/M. 1983, S. 433 – 469; Jean Paul: Menschen sind Maschinen der Engel.– In: Sämtl. Werke. Hrsg. von N. Miller und W. Schmidt-Biggemann. Abt. II., München 1976, S. 1028 – 1031; ders.: Unterthänigste Vorstellung unser, der sämtlicher Spieler und redenden Damen in Europa entgegen und wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprechmaschinen.– In: Sämtl. Werke. Abt. II., S. 168 – 185; ders.: Der Maschinen-Mann nebst seinen Eigenschaften.- In: Sämtl. Werke. Abt. IV, S. 446 – 453; Poe, E. A..: Maelzels Schachspieler.- In: ders.: Der Rabe. Zürich 1994, S. 360 – 394 (=1836); ders.: Von Kempelens Erfindung.- In: ders.: Der schwarze Kater. Erzählungen 1843 – 1849. Zürich 1994, S. 590 – 599 (= 1849).

(5) Erwähnt seien Sheila E. Braines „The Turkish Automaton“ (London 1899) und Henry Dupuy-Mazuels mehrfach verfilmter Bestseller „Le Joueur d’Èchecs“ (Paris 1926).

(6) Etwa Heinrich Becks Die Schachmaschine (1797), in Benoit-Joseph Marsolliers und Chazets Einakter Le Joueur de’Echecs aus 1801 und später in J. Walkers Modus Operandi 1866.

(7) Vgl. Turing, A. M.: Intelligence Service. Schriften. Hrsg. v. B. Dotzler u. F. Kittler. Berlin 1987, S. 117

(8) Benjamin, W.: Über den Begriff der Geschichte.- In: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser. Bd. 2.1, Frankfurt/M. 1991, S. 691 – 707.

(9) So zB.: Lysiak, W.: Schach dem König. Hamburg 1995 (=1980); Langin, V.: Legenda o schachmaton avtomate. St. Petersburg 1993, Hübner, L.: Der Maschinist. Schauspiel in fünf Akten. Köln 1999 (Libretto zur Kammeroper von Hans Schanderl, Uraufführung am 16. 9. 2000 im Deutschen Pavillon der Expo 2000 in Hannover); Levitt, G. M.: The Turk, Chess Automaton. Jefferson 2001; Standage, T.: Der Türke. Die Geschichte des ersten Schachautomaten und seiner abenteuerlichen Reise um die Welt. Aus dem Englischen von T. Merk und T. Wollermann. Frankfurt/New York 2002. (s. zu Standage auch S.17 in diesem Heft)

(10) vgl. dazu: Hochadel, O.: Physik für alle? Oder: Der „uneingeschränkte Nutzen der Naturlehre“. Zur Geschichte des „öffentlichen Physikunterrichts“ in der deutschsprachigen Aufklärung.- In: Spurensuche (1-4/1999), S. 89 – 108; Stafford, M. B.: Kunstvolle Wissenschaft. Aufklärung, Unterhaltung und der Niedergang der visuellen Bildung. Amsterdam, Dresden 1998.

(11) Recke, E. v.: Vor hundert Jahren. Elise von Reckes Reisen durch Deutschland 1784 – 1786. Stuttgart o.J.