LIEBE ZUM DETAIL

Von Karsten Müller

Kindermann Französisch Winawer Cover

Stefan Kindermann und Ulrich Dirr,
Französisch Winawer,
Band I: 7.Dg4 0-0,
Chessgate 2001,
352 S., kartoniert, zweifarbig,
44,80 DM

Mit ihrem neuen Buch über die Winawer-Variante mit 7.Dg4 0-0 legen die Autoren ein großes, mit viel Liebe zum Detail erstelltes Werk vor. Diese wird schon in den verschiedenen Abschnitten sichtbar: so gibt es neben einer Betrachtung über die historische Entwicklung der Variante, die – wirklich ungewöhnlich für ein Eröffnungsbuch – viele Fotos der Protagonisten enthält, einen sehr umfangreichen Theorieteil mit ausführlich kommentierten Musterpartien. Ergänzt wird dies durch Aufgaben, strategische Erläuterungen grundsätzlicher Motive und enzyklopädische Tabellen. Durch all das lernt man nebenbei viel über typische Strategien und Prinzipien, die auch in anderen Varianten der französischen Verteidigung gelten.

Das Layout des Buches ist hervorragend. Besonders die Verwendung zweier Farben, von denen eine für die Hauptvariante reserviert ist, erhöht die Übersichtlichkeit erheblich.

Bei allen diesen Vorteilen ist es schade, dass nur dieser recht begrenzte Ausschnitt und nicht ein komplettes Schwarzrepertoire gegen 1.e4, ja nicht einmal gegen 1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 geboten wird. Aber da dies Band 1 ist, wird das französische Spektrum vermutlich in den folgenden Bänden ergänzt!

Beeindruckt haben mich vor allem die Tiefe der Analysen und die Klarheit der Darstellung. Durch ihre mutigen Anregungen und eigenständigen Analysen haben die Autoren reichlich Stoff für weitere Nachforschungen geliefert. Im folgenden ein paar meiner Ideen zu gemachten Vorschlägen.

Das von den Autoren “Warschauer Variante” getaufte Abspiel mit 7.Dg4 0-0 war nach folgender Partie scharf unter Beschuß geraten:

MAUS – HÜBNER
LUGANO 1989

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Se7 7.Dg4 0-0 8.Ld3 Sbc6 9.Dh5 h6?
Lange dachte man, das folgende Läuferopfer führt zum Remis – bis Murray Chandler entdeckte, wie man einen unwiderstehlichem Angriff einleiten konnte und diesen Weg seinem damaligen Mannschaftskollegen beim Hamburger SK verriet:
10.Lxh6! gxh6 11.Dxh6 Sf5 12.Lxf5 exf5

13.0-0-0!
Das war Chandlers Patent, dem später auch noch die Französischspezialisten Uhlmann und Psachis zum Opfer fallen sollten. Das schnelle Eingreifen des weißen Damenturms bringt die Entscheidung.
13…f4
13…c4 14.Sh3 f6 15.Dg6+ Kh8 16.The1 fxe5 17.dxe5 f4 18.Dh6+ Kg8 19.Sxf4 De7 20.Te3 Lg4 21.Sxd5 Dxa3+ 22.Kb1 1-0 Vogt – Uhlmann, Berlin 1989.
14.Sh3 Se7
14…Lf5 15.Sxf4 f6 16.Sg6 fxe5 17.dxe5 Da5 18.Dh8+ Kf7 19.Dh7+ Ke8 20.e6 Dxa3+ 21.Kd2 Lxe6 22.Sxf8 d4 1-0 Kindermann – Psachis, Dortmund 1989.
15.Sg5 Lf5 16.g4 Le4 17.The1 Db6 18.e6 Lg6 19.Td3 1-0

So bedrohlich all das schien, fanden die Schwarzspieler im Folgenden doch Rezepte, um diesen Überfall zu vermeiden. Neben der alten Hauptvariante 7.Dg4 0-0 8.Ld3 f5 waren dies die Hertneck Variante 7.Dg4 0-0 8.Ld3 Sbc6 9.Dh5 Sg6 10.Sf3 Dc7 und die Rustemov Variante 7.Dg4 0-0 8.Ld3 Da5 (Namensgebung von Kindermann / Dirr). Die folgende Idee von Robert Hübner geriet allerdings schnell in einen schlechten Ruf:

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Se7 7.Dg4 0-0 8.Ld3 Sbc6 9.Dh5 Sf5?!
Das ist die Hübner-Idee und die Autoren unternehmen den Versuch, diesem Zug wieder neues Leben einzuhauchen. Ich habe jedoch große Zweifel, ob Schwarz damit gut fährt:
10.Sf3 f6 11.g4 g6 12.Dh3 Sg7 13.Dh6
die Enzyklopädie gibt hier +-. Das mag übertrieben sein, doch Weiß steht meiner Meinung nach bereits besser:
13…Se8 14.h4 fxe5 15.Sxe5!?

Dieses einfache Zurückschlagen wird von Kindermann / Dirr nicht angegeben. Ihre Hauptvariante lautet 15.Sg5 De7 16.h5 Dg7 17.hxg6 hxg6 18.Dxg7+ Kxg7 19.Th7+ Kg8 20.Lxg6 exd4 21.Sf7 Txf7 unklar. Aber nach dem Textzug sehe ich keine Möglichkeit für Schwarz voll auszugleichen, z.B. 15…Da5? 16.h5 Dxc3+ (16…Sxe5 17.hxg6 Sxd3+ 18.cxd3 Dxc3+ 19.Ke2+-) 17.Kd1 Sxe5 18.hxg6 Tf3 19.Dxh7+ Kf8 20.Lh6+ Sg7 21.Dxg7+ Ke8 22.dxe5+-; 15…Df6 16.De3 Sxe5 17.dxe5 Dg7 18.h5 c4 19.Le2 16.dxe5 Dc7 17.h5 Dxe5+ 18.Kf1 Dg7 19.hxg6 hxg6 20.c4 und das Läuferpaar sowie der Druck am Königsflügel geben Weiß einen spürbaren Vorteil.

Auch die folgende Variante genießt keinen guten Ruf:
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Se7 7.Dg4 0-0 8.Ld3 f5 9.exf6 Txf6 10.Lg5 Tf7 11.Dh5 h6?!
Die Hauptvariante 11…g6 ist viel solider.
12.Lh7+!?
ein interessanter Vorschlag von Hagen Tiemann. Auch 12.Lg6 und 12.Sf3 kommen stark in Betracht. Die folgende Variante ist aus schwarzer Sicht praktisch forciert:
12…Kxh7 13.Dxf7 hxg5 14.Sf3 Sbc6
14…Sf5? 15.h4±
15.h4 g4 16.h5 Dg8
16…Sf5? 17.h6 Sxh6 18.Txh6+ Kxh6 19.Kd2+-
17.Sg5+ Kh8 18.Dg6!?
18.h6 Dxf7 19.Sxf7+ Kh7 20.Sg5+ Kg6 21.h7 Ld7 22.h8D Txh8 23.Txh8 Kxg5 unklar, ist die Hauptvariante von Kindermann / Dirr.
18…Sd8

Hier brechen die Autoren mit leichtem Vorteil für Schwarz ab. Dies scheint mir äußerst fragwürdig zu sein, da die schwarzen Figuren am Königsflügel alle paralysiert sind, z.B. 19.c4!? Ld7 19…cxd4 20.0-0-0 e5 21.Dd6 (21.Tde1!?) 21…Sf5 22.Dxd8 Dxd8 23.Sf7+ Kg8 24.Sxd8 dxc4 25.The1+=] 20.cxd5 exd5 [20…Le8? 21.dxe6±] 21.Kd2 Lf5 [21…Le8 22.Tae1 Sdc6 23.dxc5+=] 22.Tae1 Df8 23.Txe7 Lxg6 24.hxg6+ Kg8 25.Sf7 Sxf7 26.gxf7+ Dxf7 27.Txf7 Kxf7 28.dxc5 mit Ausgleich.

Diese beiden Beispiele wecken vielleicht den Anschein, dass ich die Analysen für nicht fundiert halte. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade gute Analysen fordern kritische Ergänzungen ja heraus! Vielmehr glaube ich, dass dieses Buch einen prägenden Eindruck hinterlassen wird!