KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

EIN SYMBOLISCHER RÜCKZUG

KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU STEFAN ZWEIGS SCHACHNOVELLE

Von FM Johannes Fischer

Zweigs Schachnovelle Cover

Stefan Zweig
Schachnovelle
Fischer Taschenbuch Verlag 1983
Paperback, 95 S.

Stefan Zweigs Schachnovelle ist auch ein Abschiedsbrief. Denn kaum hatte er die Erzählung im brasilianischen Exil fertig gestellt, nahm er sich im Februar 1942 mit seiner Frau Lotte das Leben. Den Erfolg des Buches hat Zweig nicht mehr erlebt. Es wurde vielfach übersetzt, millionenfach verkauft und gilt als eine der besten literarischen Darstellungen des Schachspiels. Dennoch hinterlässt die Schachnovelle ein zwiespältiges Gefühl.

Wobei die Popularität der Erzählung nur allzu verständlich ist. Noch einmal demonstriert Zweig seine literarische Kunst der Verknappung und atemlos verfolgt der Leser das Schicksal Dr. Bs., der Hauptfigur der Schachnovelle: er wird von den Nazis mit Isolationshaft gequält, flüchtet in die Welt des Schachs, spielt Tausende von Partien gegen sich selbst, verfällt schließlich dem Wahn, wird frei gelassen, trifft auf seiner Schifffahrt ins Exil den Weltmeister Mirko Czentovic – und tritt gegen ihn an, um zu überprüfen, ob er in der Realität überhaupt Schach spielen kann.

Symbolisch steht dabei das Duell von Dr. B. gegen Czentovic für den Kampf zwischen der Welt der Kultur und des Geistes gegen den Nationalsozialismus, den Czentovic‘ verkörpert. Dieser ist als Schachspieler zwar rasant aufgestiegen, aber als Person dumpf und geistlos und nur an Geld und Macht interessiert.

Aber bei aller Virtuosität Zweigs regt sich dennoch Unbehagen. So scheint es typisch für die Schachwelt zu sein, dass sie eine Erzählung für besonders gelungen hält, die dem Spiel letztlich keinen großen Respekt bezeugt. Da ist zum einen der Wahn, in den Dr. B. verfällt, und der das Schach wieder einmal in die Nähe jener Spiele rückt, bei denen die geistige Gesundheit gefährdet ist. Zum anderen unterlaufen Zweig aber auch sachliche Ungenauigkeiten. So bezeichnet er den Springer einmal als „Pferd“ (Stefan Zweig, Schachnovelle, Fischer Taschenbuch Verlag, 1994, S.92), dann heißt es über „Rzecewski“: „seit dem Auftreten des siebenjährigen Wunderkindes Rzecewski bei dem Schachturnier 1922 in New York“ (S.6) – wobei Reshevsky zu diesem Zeitpunkt weder siebenjährig noch völlig unbekannt war. Auch scheint das Schachspiel bei Zweig merkwürdig einfach zu sein. So beherrscht Czentovic trotz seiner beschränkten intellektuellen Fähigkeiten in „einem halben Jahre … sämtliche Geheimnisse der Schachtechnik“ (S.13) und schickt sich dann an, Leute wie Capablanca, Lasker und Aljechin kurzerhand vom Brett zu fegen. Mit fünfzehn lernt er die Regeln, „mit siebzehn Jahren hatte er schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit achtzehn sich die ungarische Meisterschaft, mit zwanzig endlich (!) die Weltmeisterschaft erobert“ (S.14). Von der Mühe und der Zeit, die es braucht, um halbwegs vernünftig zu spielen, ist nichts zu spüren. Aber auch Dr. B. spottet den Theorien, die heutzutage über systematisches und frühes Training aufgestellt werden: er lernt die Regeln in seiner Schulzeit und während der einjährigen Haft verhilft ihm ein einziges Schachbuch zu beinahe schon mehr als weltmeisterlicher Stärke. Auch bei der Zeiteinteilung der ersten Partie zwischen den beiden Protagonisten wundert man sich ein wenig: so wird mit „zehn Minuten Zugzeit“ (S. 104) gespielt, von denen Czentovic weidlich Gebrauch macht, dennoch dauert die erste Partie trotz ihrer 42 Züge gerade einmal „zweidreiviertel Stunden.“

Ohnehin opfert Zweig um der Symbolik willen einiges an Realismus. So illustriert er Czentovics völligen Mangel an Vorstellungskraft, deren Zuviel Dr. B. in den Wahn treibt, durch die Unfähigkeit des Weltmeisters, auch nur eine einzige Partie blind zu spielen. Eine recht absurde Annahme. Damit wäre er der erste Weltmeister, der das nicht zu Stande bringt. Und auch wenn nicht jeder ein Blindspielakrobat wie Aljechin ist, der es mit mehr als zwanzig Gegnern gleichzeitig aufnahm, so gibt es unter den zehntausend besten Schachspielern der Welt vermutlich keinen, der nicht aus dem Stand eine halbwegs vernünftige Blindpartie spielen könnte.

Mögen diese Ungenauigkeiten auch nicht bedeutsam sein – die Grundkonstruktion der Novelle ist bedenklich. So erweist sich Dr. B. gegenüber seinem Gegner Czentovic fast immer als unendlich überlegen: Er ist klug, gebildet, geistreich, gewandt, aus gutem Hause und letztlich der bessere Schachspieler. Czentovic hingegen ähnelt einem Kretin: Er ist dumpf, ein halber Analphabet, der seine einzige Begabung dazu nutzt, „schamlos plump“ (S.15) Geld zu verdienen und sich für eingebildete Kränkungen zu rächen.

Doch gerade Dr. Bs. positive Eigenschaften erweisen sich als sein Verderben: seine Vorstellungskraft, seine Intelligenz, sein wacher Geist wenden sich gegen ihn selbst, machen ihn wahnsinnig. In der Isolationshaft wie auch später in der Partie gegen Czentovic verzweifelt Dr. B. am Stumpfsinn seiner Umgebung. „‚Ich war durch meine fürchterliche Situation gezwungen, diese Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß zumindest zu versuchen, um nicht erdrückt zu werden von dem grauenhaften Nichts um mich.'“ (S.77)

Dr. B.s Aggression richtet sich dabei kaum gegen seine Unterdrücker, sondern gegen sich selbst. Denn den Kampf ernsthaft aufzunehmen, würde in seinen Augen bedeuten, zu dem Flegel zu mutieren, der Czentovic schon ist.

Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma, den die Schachnovelle anbietet, ist der Rückzug. Also bricht Dr. B. die Schachpartie abrupt ab und überlässt Czentovic das Feld. Dies symbolisiert letztlich die Kapitulation vor den Nationalsozialisten. Hier zeigt sich die Verzweiflung Zweigs, die schließlich zu seinem Selbstmord führte.

Mit dem Abstand von 60 Jahren erscheint dieser Freitod als tragisches Einzelschicksal eines Menschen, der eine Welt voller Krieg nicht ertragen konnte, in der die Nationalsozialisten unaufhaltsam auf dem Vormarsch zu sein schienen. Damals jedoch bedeutete Zweigs Tod einen schweren Rückschlag für viele, die sich ebenfalls im Exil befanden. So schreibt Carl Zuckmayer: „In den Kreisen der Emigration hatte Stefan Zweigs freiwilliger Tod eine ungeheure Bestürzung hervorgerufen. … Wenn er, dem alle Möglichkeiten offenstanden, das Weiterleben für sinnlos hält – was bleibt dann denen noch übrig, die um ein Stück Brot kämpfen? … [Er gehörte] zu den Begünstigten unter uns. Zu den Vereinzelten, die einen internationalen Leserkreis, einen Widerhall für ihr Werk, eine ständige Anerkennung hatten. Zu den Wenigen, die schon eine neue Nationalität, einen gültigen Paß, eine Art von Sicherheit besaßen. Er hatte keine materiellen Sorgen, er konnte sein Leben einrichten, wie er wollte.“ (Carl Zuckmayer, „Did you know Stefan Zweig?“, in: Der große Europäer Stefan Zweig, Hrsg. Hanns Arens, Fischer Taschenbuch 1981, S. 133-134).

Es beweist Zweigs schriftstellerische Kunst, dass er Dr. Bs. resignativen Verzicht, Czentovic im Schach zu besiegen, als zwingend darzustellen vermag. Akzeptiert man jedoch die symbolische Interpretation der Schachpartie als eine Auseinandersetzung zwischen einem europäischen Kulturmenschen und dem aufkommenden Faschismus, dann wünscht man sich, Dr. B. hätte seine Begabung, seine Bildung, seine Erziehung und nicht zuletzt seine in der Haft erworbenen Fähigkeiten genutzt, um Czentovic in die Schranken zu weisen.