KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

EIN EXZESSIVES GENIE –
WELTMEISTER MICHAIL TAL

Von FM Johannes Fischer

Weltmeister Tal Cover

Weltmeister Michail Tal:
ChessBase Monographie
von Johannes Sondermann,
Hamburg: ChessBase,
24,99 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

„Mischa war ein Genie. Deshalb hatte er diese Güte. … Außerdem war er kein besonders einfacher Mensch.“ Das sagt Engelina Tal, die Witwe Michail Tals. Die vor kurzem erschienene ChessBase Monographie über den 1992 gestorbenen „Schachzauberer“ beginnt mit einem offenherzigen und aufschlussreichen Interview mit der Witwe und der Tochter des Ex-Weltmeisters. Danach folgt eine von Johannes Sondermann, dem Herausgeber der CD, verfasste Biographie Tals, die auf der Grundlage zahlreicher Quellen ein facettenreiches Bild des Angriffskünstlers zeichnet. Bei aller Bewunderung für Tals Schachkünste werden dunkle Punkte dabei nicht ausgeklammert.

Tal war eine faszinierende Persönlichkeit. Ein hochbegabter und intelligenter Künstler, der nur für das Schach lebte; für den Geld keine Rolle spielte, der es bedenkenlos weggab und nie ein Portemonnaie besaß; der mit 17 bereits studierte, weil er zwei Schulklassen überspringen konnte; der alles, was er tat, leidenschaftlich tat und der auf seine eigene Gesundheit genauso wenig achtete wie auf die anderen „Kleinigkeiten“ des Lebens; der trotz schwerer gesundheitlicher Probleme exzessiv rauchte, trank und zeitweilig morphiumsüchtig war.

Konventionen waren ihm egal. Einmal lebte er mit seiner Ex-Frau, ihrem gemeinsamen Sohn, seiner neuen Freundin, seiner Mutter und seinem Bruder in einer Wohnung. Engelina Tal erzählt, dass er meist um sechs Uhr morgens aufstand und sich dann den ganzen Tag mit Schach beschäftigte.

Seine Partien passten zu einem solchen Menschen. Immer wieder gelangen Tal faszinierende Angriffe, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Er riskierte Figurenopfer, die auf den ersten Blick „unmöglich“ wirkten, aber schwer zu widerlegen waren. Während die meisten Spieler damals mühsam jede noch so kleine Schwäche vermeiden wollten und sich ängstlich an jeden Bauern klammerten, spielte Tal mit unbekannter Dynamik und verlieh dem Schach neue Dimensionen.

Geboren wurde Tal am 9. November 1936 in Riga in Lettland als Sohn lettischer Juden. Als die Deutschen am 1. Juli 1941 in Lettland einmarschierten, konnte Familie Tal nur mit knapper Not entkommen. Sie erwischten gerade noch den letzten Zug, der Riga verließ, mussten aber all ihr Hab und Gut in der Stadt zurücklassen.

Schach lernte Tal mit sieben. Er war gut, aber kein Wunderkind. 1949 traf er Alexander Koblenz, der bald darauf sein Trainer und enger Vertrauter wurde und beides ein Leben lang blieb. Bald nach dieser Begegnung begann Tals rasanter Aufstieg in die Weltspitze, die er in den 50er Jahren mit atemberaubender Geschwindigkeit eroberte. Seine Art zu spielen, begeisterte Schachfans in aller Welt. Das junge Genie liebte das Risiko, spielte bedingungslos und mutig auf Angriff und wagte selbst gegen etablierte Großmeister unklare Figurenopfer.

Der junge Mikhail Tal (1959)

Auch sein Äußeres wirkte attraktiv. Legendär war sein durchdringender Blick, der etwas hypnotisches besaß und die Leidenschaft ahnen ließ, mit der Tal spielte. Aber trotz dieses furchterregenden Blicks war Tal freundlich, offen und zugänglich. Auch später, als er bereits eine lebende Legende war, musste man kein Großmeister sein, um mit dem Schachgenie zu spielen, zu analysieren und zu reden.

Dabei war Tal bei seinem Aufstieg in die Weltspitze nicht einmal Profi, sonderte studierte noch. 1958 legte er sein Staatsexamen im Fach „Russische Sprache und Literatur“ ab, um danach kurze Zeit als Referendar zu arbeiten, bis er sich schließlich ganz dem Schach widmete.

Es war wie im Märchen: bereits im ersten Anlauf nahm der junge Tal alle Hürden und qualifizierte sich 1960 als Herausforderer von Weltmeister Mihail Botwinnik, dem gestrengen Patriarchen des Sowjetschachs, dessen Erfolgsgeheimnisse harte Arbeit und Disziplin waren – vom Typ her das genaue Gegenteil der Künstlerexistenz Tal. Aber Tal blieb sich treu und spielte zweischneidig und riskant. Der Erfolg gab ihm Recht: Tal gewann mit 12,5:8,5.

Doch das Wunder währte nur kurz. Botwinnik machte von seinem Recht auf ein Revanchematch Gebrauch, auf das er sich sorgfältig vorbereitete. Tal schien das Ganze nicht so ernst zu nehmen und sein Trainer Koblenz verzweifelte bei den vergeblichen Versuchen, Tal auf den Wettkampf einzustimmen. Außerdem beging Tal eine Dummheit, für die man ihm heute dankbar sein muss: Er schrieb ein ungewöhnlich offenherziges Buch über den Wettkampf 1960, in dem er seine Strategie, sowie seine Gedanken und Gefühle während der Partien schilderte. Ein Geschenk für jeden Schachliebhaber und ein phantastisches Buch – aber auch die ideale Wettkampfvorbereitung für Botwinnik.


Cover der 1977 bei R.H.M. Press erschienenen Übersetzung des Buches
über den Wettkampf Tal – Botwinnik

Zudem war Tal beim Rückkampf 1961 gesundheitlich angeschlagen. Nachdem der Wettkampf trotzdem nicht verlegt wurde, war der Talsche Zauber plötzlich verflogen. Botwinniks Disziplin, seine Arbeitskraft und sein fanatischer Siegeswillen setzten sich durch: Tal verlor 8:13 und wurde der jüngste Ex-Weltmeister aller Zeiten – einen Titel, den er mit Stolz trug.

Manchmal scheint es, als ob Tal danach nie wieder an frühere Leistungen anknüpfen sollte. Aber dieser Eindruck täuscht. Im Laufe seines Lebens wurde er nicht weniger als sechs Mal sowjetischer Meister – was außer ihm nur Botwinnik geschafft hat – und in den Jahren 1972-73, als sein Spiel ruhiger geworden war, gelang es ihm, in 86 Partien in Folge gegen starke Gegnerschaft ohne Verlust zu bleiben.

Und er blieb der Liebling der Fans. Auch wenn ihm seine diversen Krankheiten schwer zu schaffen machten und zu unbeständigen Ergebnissen führten, spielte er immer wieder wunderbare Partien. Auch als Schachjournalist glänzte er. Zehn Jahre gab er die lettische Zeitschrift Sahs heraus, die dadurch aufblühte. Seine Vorträge und Kommentare im russischen Fernsehen schlugen auch schachliche Laien in den Bann und sein Buch The Life and Games of Mikhail Tal gilt vielen als eines der besten Schachbücher aller Zeiten. In einem Interview mit sich selbst berichtet Tal dort über seine Laufbahn, seine Turniere, seine Art der Vorbereitung und seine Einstellung zum Schach. Tals Leidenschaft für das Spiel wirkt ansteckend und die Partien sind ohnehin ein Genuss. Politisches und Privates blieb allerdings ausgeklammert.

 

Es ist verständlich, dass solch ein Charakter Schwierigkeiten mit dem sowjetischen System hatte. Tal wurde von manchen Funktionären schikaniert und Auslandsreisen wurden ihm gelegentlich verweigert. Vermutlich hat Tal zugestimmt, Karpow bei seinem Kampf gegen Kortschnoi als Sekundant zu helfen, weil er so wieder Turniere im westlichen Ausland spielen durfte.

Aber Tals exzessives Leben forderte irgendwann seinen Tribut. Immer wieder musste er sich wegen diverser Krankheiten behandeln lassen und bereits sehr krank und stark geschwächt starb er an den Folgen einer falsch durchgeführten Operation am 28. Juni 1992 im Alter von nur 55 Jahren in einem Moskauer Krankenhaus. Bis zum Ende seines Lebens spielte er phantastisches Schach. Zwei Monate vor seinem Tod, hatte er Ende April 1992 noch an einem starken Turnier in Barcelona teilgenommen und Lautier in einer brillanten Partie besiegt.

Tal opfert gleich in der Eröffnung eine Figur, um den schwarzen König im Zentrum festzuhalten und seinen Entwicklungsvorsprung auszunutzen. Nach einer Serie brillanter Angriffszüge ergibt sich schließlich ein klar besseres Endspiel, das Tal nach etlichen beiderseitigen Ungenauigkeiten gewinnt.

TAL – LAUTIER
Barcelona 1992

1.d4 Sf6 2.Sf3 e6 3.g3 b5 4.Lg2 Lb7 5.0-0 c5 6.Lg5 Db6 7.a4 a6 8.Sc3 Se4 9.Sxe4 Lxe4 10.axb5 Dxb5 11.Dd2 f6 12.Lf4 Db7 13.c4 cxd4

14.Dxd4 e5 15.Lxe5 fxe5 16.Dxe5+ Le7 17.Sd4 Lxg2 18.Sf5 Db4 19.Kxg2 Sc6 20.Dxg7 0-0-0 21.Txa6

21…Db7 22.Tfa1 Sb4+ 23.Kg1 Sxa6 24.Dxe7 Db6 25.Da3 Thf8 26.Sd6+ Kc7 27.Dxa6 Ta8 28.Dxb6+ Kxb6 29.Td1 Ta2 30.Td2 Kc6 31.f3 Tfa8 32.Sb5 T8a4 33.Tc2 Kc5 34.Sc3 Ta1+ 35.Kf2 Txc4 36.Td2 Ta7 37.e4 Kc6 38.Ke3 Tb7 39.Tc2 d6 40.Kd3 Tc5 41.f4 Tb4 42.g4 Kd7 43.g5 Ke6 44.h4 d5 45.Sxd5 Txc2 46.Sxb4 Txb2

47.Sc2 Tb3+ 48.Kc4 Th3 49.Sd4+ Kf7 50.f5 Txh4 51.Kd5 Tg4 52.Sf3 Tg3 53.Se5+ Kg8 54.f6 Txg5 55.Ke6 Tg1 56.f7+ Kg7 57.Sd7 Tf1 58.f8D+ Txf8 59.Sxf8 h6 60.Sd7 h5 61.Se5 h4 62.Sf3 1-0

Auch im letzten Blitzturnier seines Lebens, das Tal kurz vor seiner Operation spielte, gewann er noch einmal gegen Garry Kasparov. Am Ende wurde Tal Dritter hinter Kasparow und Barejew, aber landete noch vor Smyslow, Dolmatow und Beljawski.

Neben dem biographisches Material enthält die CD eine Sammlung mit 2857 Tal-Partien und eine Datenbank mit Trainingsaufgaben. Während der Partiesammlung ein paar mehr kommentierte Partien nicht geschadet hätten, schlägt einen die von Henrik Schlößner erstellte Trainingsdatenbank mit Tal-Kombinationen sofort in ihren Bann. Sie enthält 245 Trainingsaufgaben, darunter recht einfache Kombinationen aber auch etliche komplizierte Opferangriffe. Wer schwungvolle Partien á la Tal spielen möchte, findet hier reichlich Inspiration.

Inspirierend ist auch die folgende Partie. Nach zurückhaltender Eröffnungsbehandlung begnügt sich Tal nicht mit einem kleinen Vorteil, sondern opfert impulsiv eine Figur – und fährt danach fort, als sei nichts geschehen. Aber in der resultierenden Stellung zeigt sich Tals Gespür für dynamisches Spiel: obwohl seine Figuren auf den ersten Blick nicht besonders bedrohlich erscheinen, findet der gegnerische König weder auf dem Königsflügel noch auf dem Damenflügel Schutz und wird von Tal mit einer Serie eleganter Züge im Zentrum zur Strecke gebracht.

TAL – VELIMIROVIC
Wettkampf Jugoslawien – UdSSR, 1979

1.c4 c5 2.b3 Eigentlich nicht die Eröffnung, die man bei Tal erwartet. Weiß verhält sich ruhig und lässt den Gegner kommen. 2…Sc6 3.Lb2 e5 4.g3 d6 5.Lg2 Le6 6.Sc3 Dd7 7.Sf3 Lh3 Auch Velimirovic steht in dem Ruf, ein wilder Angriffsspieler zu sein, und dementsprechend respektlos geht er auf Tal los. Aber dieser Abtausch ist verfrüht und gibt Weiß die Gelegenheit, die Initiative zu ergreifen. 8.Lxh3 Dxh3 9.Sd5 Dd7 10.e3 Mit der Idee, die Stellung durch d4 zu öffnen und den weißen Entwicklungsvorsprung zur Geltung zu bringen. 10…Sce7 11.Sc3 Sf6 12.0-0 e4

13.Sg5!? Typisch. Die meisten Spieler hätten Sg5 vermutlich ohne viel Nachdenken verworfen, da der Springer gefährdet steht – und außerdem behält Weiß nach dem vorsichtigen 13.Se1 eine gute Stellung. 13…d5 13…Df5 ist zu direkt: 14.Sb5 Dxg5 15.Sxd6+ Kd7 16.Sxf7 Df5 17.Sxh8 Dh3 18.f3+- 14.cxd5 Df5

Jetzt scheint der Springer auf Abwege geraten zu sein. 15.Sxf7 Die Pointe von 13.Sg5. Ein Springeropfer, um den König in der Mitte zu halten. Das Verblüffende dabei: Schwarz erhält noch den Bd5 und alle weißen Figuren scheinen vom König noch weit entfernt zu sein. Sie machen nicht den Eindruck, als könnten sie Schwarz wirklich gefährlich werden. Aber 15…Kxf7 16.f3! Fährt fort, als sei nichts passiert. Weiß öffnet die Stellung, um die prekäre Stellung des schwarzen Königs auszunutzen. 16…Sexd5 17.fxe4 Sxc3 18.Lxc3 Dxe4 19.Dh5+ Ke6 Eine einfache Lösung der schwarzen Probleme ist nicht in Sicht, z.B.: 19…Dg6 20.Dd5+ Ke8 21.Dxb7 De4 22.Da6 Le7 23.Tf4 Dd5 24.e4 Dd6 25.Dc4 Dd7 26.Taf1 mit Kompensation für Weiß. 20.Dh3+ Kd6 21.b4! Nachdem Weiß im Zentrum und am Königsflügel gespielt hat, bedrängt er Schwarz jetzt am Damenflügel.

21…Kc7 22.Tac1 Tc8 23.Tf5 Dg4 24.Le5+ Kd7 25.Df1

Der Auftakt einer Reihe brillanter Züge, mit denen die weißen Schwerfiguren dem schwarzen König zu Leibe rücken. 25…De4 26.Tc4 Dc6 27.Dh3 De6 28.Lxf6 gxf6 Nach 28…Dxc4 folgt eine weitere Überraschung: 29.Lxg7! (aber nicht 29.Td5+ Kc7 30.Dd7+ Kb8 31.Le5+, da sich Schwarz nach 31…Ld6 retten kann.) 29…Lxg7 30.Tf7+ Kd6 31.Dd7+ Ke5 32.Tf5+ Ke4 33.Tf4+ mit Gewinn für Weiß. 29.Te4 Dxa2 30.Txc5+ mit baldigem Matt. 1-0

Also: Wer sich für das Leben des Schachgenies Tal interessiert, solche oder ähnliche Partien spielen möchte, oder ganz einfach Spaß an dynamischem Schach hat, der sollte sich die CD besorgen.