KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

WEISS ZIEHT UND GEWINNT:

EIN KURZER BLICK AUF FÜNF AKTUELLE TAKTIKBÜCHER

Von FM Johannes Fischer

Diese Stellung ergab sich beim Turnier in Wijk aan Zee in der Partie zwischen dem deutschen Nachwuchsstar Arkadij Naiditsch und der indischen Großmeisterin Humpy Koneru. Koneru, die in der Partie unter Druck stand, wollte sich durch den Damentausch entlasten, erlebte aber eine böse Überraschung. Wie entschied Weiß die Partie sofort für sich?

Lösung: Nach 23.The1! Dxd3 24.Txe8+ Kf7 schlug Naiditsch nicht mechanisch die Dame, sondern spielte den schönen und vernichtenden Zug 25.Tde1! Weiß droht auf e7 mit Matt, er deckt seinen Turm auf e8 und die schwarze Dame hängt immer noch. Schwarz ist verloren. Nach 25…De4 26.Sxe4 Kxe8 27.Sxf6+ Kf7 28.Sg5+ gab Koneru auf.

Wie macht man das? Wie sieht man solche Kombinationen? Ist es ganz allgemein Schachtalent, eine göttliche Eingebung im rechten Moment oder eine besondere Begabung für die Taktik? Untersuchungen an den Hirnströmen von Schachspielern legen eine andere Antwort nah: es steckt Arbeit dahinter. Die Spielstärke im Schach scheint unmittelbar mit der Zahl schachlicher Muster verknüpft zu sein, die man sich im Laufe seiner Schachkarriere angeeignet hat und auf die man während des Spiels zugreift. Schachliche Muster können bestimmte Figurenkonstellationen, strategische Motive und eben Kombinationsmotive sein. Je mehr Muster man kennt, desto leichter fällt es einem, die aktuellen Probleme auf dem Brett zu lösen. Mit anderen Worten: Taktik kann man lernen.

Unterstützung liefern dabei zahlreiche Bücher mit Sammlungen von Kombinationsaufgaben. Im Folgenden werden fünf solcher Bücher, die vor kurzem erschienen sind bzw. neu aufgelegt wurden, vorgestellt.

Karl Colditz, Lehr-, Übungs- und Testbuch der Schachkombinationen,
Zürich: Edition Olms, 2002,
184 S., kartoniert,
9,95 Euro

(Dieses, wie auch alle anderen Rezensionsexemplare, wurden  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

 

Als Einführung in die Geheimnisse der Kombinationskunst ist dieses Buch bestens geeignet. Es ist ein heimlicher Klassiker, der im letzten Jahr bereits die fünfte Auflage erlebte. Was macht Colditz‘ Taktikbuch so beliebt? Vermutlich die ausgewogene Mischung von erklärendem Text und Aufgaben sowie die durchdachte Anordnung des Materials. Colditz bietet ein „dreistufiges Trainingsprogramm zur Verbesserung der Kombinationsfähigkeit an“. Er beginnt mit knappen Einführungen in die Grundelemente der Taktik wie z.B. Gabel, Spieß, Fesselung, Abzug usw., die anhand einfacher Beispiele erläutert werden. Dann folgen „9 Übungsserien zu jeweils 10 Aufgaben“, in denen man seine taktischen Fähigkeiten testen kann. Da das Buch einen Einstieg in die Taktik vermitteln möchte, sind die Aufgaben nicht allzu schwer.

Wie viel man gelernt hat bzw. schon kann, findet man durch den Test am Ende des Buches heraus. Er besteht aus drei Testserien mit jeweils 10 Aufgaben. Punkte gibt es für die richtige Lösung und die Schnelligkeit, mit der man die Lösung gefunden hat. Das Besondere an diesem Test ist, dass er im Gegensatz zu vielen anderen der in Testbüchern vorgestellten Testreihen „geeicht“ ist, d.h. die Ergebnisse sind aussagekräftig. Dazu wurden die Aufgaben einer Reihe von unterschiedlich starken Spielern vorgelegt und deren erzielte Punktzahlen mit ihren Elo-Zahlen in Verbindung gesetzt. Die eigene Punktzahl kann man so bequem mit diesen Werten vergleichen.

FAZIT

All das macht Colditz‘ Lehrbuch zu einer sehr guten und gelungenen Einführung in das Gebiet der Taktik.

 

Volkhard Igney,
Erfolgreich Kombinieren,
Zürich: Editions Olms, 2002,
260 S., kartoniert,
19,95 Euro

Mehr als nur eine Einführung in die Taktik zu geben will dagegen Volkhard Igney. In seinem 2002 erschienenen Buch Erfolgreich kombinieren: Schachtaktik und Schachkombinationen in Theorie und Praxis, das vom Deutschen Schachbund mit dem Siegel „Offizielles Lehrbuch des Deutschen Schachbundes“ die höheren Weihen erhalten hat, folgt Igney guter deutscher Forschersitte und versucht die Dinge in eine theoretische Ordnung zu bringen und „die Schachkombination und ihre Grundlage – die Schachtaktik – systematisch darzustellen“ (S.9). Wie wichtig das ist, erklärt der ehemalige Bundestrainer Klaus Darga in seinem Geleitwort: „Die Lehre der Schachtaktik und Schachkombination erfolgt im Allgemeinen unsystematisch. … Wir finden in der Schachliteratur … bislang keine auch nur annähernd vollständige Darstellung oder gar eine saubere Klassifikation der taktischen Elemente. Die meisten Veröffentlichungen auf diesem Sektor verzichten auf Vollständigkeit und setzen stattdessen auf eine möglichst unterhaltsame Form der Belehrung. Volkhard Igney wählt mit seinem vorliegenden Werk ganz bewusst einen anderen Ansatz “ (S. 8).

Auch wenn man den Hinweis, dass dieses Buch einen nicht unterhalten will und auch nicht wird, dankbar zur Kenntnis nimmt, so ist man doch über die Behauptung der fehlenden „Klassifikation der taktischen Elemente verblüfft. Bereits Tarrasch schrieb 1931: „Kombinationen … lassen sich oft auf gewisse einfache Typen zurückführen, und man kann die Phantasie darauf trainieren. Man kann es lernen, zu kombinieren, indem man die immer wiederkehrenden Wendungen zum Gegenstand des Studiums macht, wie wir es im folgenden tun wollen.“ (Siegbert Tarrasch, Das Schachspiel, S.103). Und im Klappentext von Hans Müllers 1969 erschienenem Buch Lerne Kombinieren liest man: „Das vorliegende Werk … ist unseres Wissens das erste, das eine planmäßige Darstellung der einzelnen Mittelspielphänomene bietet, dabei das kombinatorische Element durch strategische Hinweise vertiefend.“

Dargas Warnung über fehlende Unterhaltung besteht allerdings zu Recht. Wer sich amüsieren will, wer Spaß beim Schach haben möchte, wer gerne Aufgaben löst, für den ist nur der Teil von Igneys Buch interessant, der Kombinationsaufgaben enthält. Der andere Teil gleicht einer lateinischen Grammatik und ist ähnlich unterhaltsam. Plötzlich hört man etwas von „Unsicheren Punkten“, „Kraft- und Körperwirkung“, dem „kombinierten Zwang“ und der „vorsorglichen Hemmung der Schutzfigur“. Igneys Versuch, die verschiedenen Elemente zu klassifizieren und theoretisch darzulegen, führt zu einem terminologischen Gestrüpp, das nichts erklärt und nur Verwirrung stiftet. Alles wird in ein theoretisches Korsett gepresst und Selbstverständliches mit bombastischen Erklärungen aufgebläht. So ist z.B. von der Magie der Bauernumwandlung, die jedes Kind versteht, in der folgenden „Erklärung“ nichts mehr zu spüren: „Die Umwandlung eines Bauern ist ein spezieller Fall. Zieht der Bauer auf die gegnerische Grundreihe, kann er sich in eine Dame oder andere Figur verwandeln. Seine Partei erzielt damit einen Materialvorteil, vergleichbar mit dem Schlagen einer gegnerischen Figur. Ein Bauer auf der vorletzten Reihe greift sozusagen das vor ihm liegende Umwandlungsfeld an, das natürlich unbeweglich ist und sich dem Angriff nicht durch Flucht entziehen kann. Der Angriff eines Bauern auf das Umwandlungsfeld lässt sich mit dem Angriff einer Figur auf eine unbewegliche Figur vergleichen. In beiden Fällen ist die Bedrohung des Angriffsobjektes und dessen Unbeweglichkeit gleichzeitig vorhanden, so dass man auch hier im erweiterten Sinn von einem kombinierten Zwang sprechen kann.“ (S.38)

Das Glossar schafft leider auch keine Klarheit. Unter dem schönen Begriff der „Fesselungsbindung“ liest man dort: „Eine Fesselung, bei der die gefesselte Figur von der Figur gedeckt wird, vor der sie gefesselt ist. Die gefesselte Figur sperrt den Angriff und wird von der dahinter stehenden Figur gedeckt, die dadurch gebunden ist. Eine gegenseitige Verpflichtung.“ (S. 215) Aha.

Ich verstehe auch nicht, wozu diese theoretischen Darlegungen gut sind. Motive wie Fesselung, Doppelangriff, Läuferopfer auf h7, Pattkombinationen, ungedeckte Figuren usw., usw. einzeln und mit Beispielen zu betrachten, hilft sicher, diese Motive und ihre Voraussetzungen besser zu verstehen und sie später im Zusammenspiel mit anderen Motiven leichter zu erkennen. Aber ich glaube nicht, dass bis ins letzte gehende Definitionen dessen, was das Wesen der Fesselung und Doppelangriffs ausmacht, auch nur einen einzigen Elo-Punkt an Spielstärkezuwachs bringt. Diese Erklärungen erfolgen in der Regel nach der Partie bzw. Kombination und sind dem Denken in Mustern, das die Grundlage der taktischen Fähigkeiten bildet, genau entgegengesetzt.

FAZIT

Zum Glück liefert Igneys Buch mehr als nur Erklärungen. 502 Beispielskombinationen, die teils in den Text eingebaut sind, teils als Übungsaufgaben konzipiert sind, bieten ein erfrischendes Gegengewicht zur grauen Theorie und helfen, die Grundlagen der Taktik tatsächlich besser zu verstehen.

James Plaskett,
Can You Be a Tactical Chess Genius?,
London: Everyman, 2002,
144 S., kartoniert,
23,40 Euro

Ganz ohne theoretischen Überbau kommt der ehemalige britische Champion, Großmeister und gefürchtete Taktiker James Plaskett aus. Er fragt „Can You Be a Tactical Chess Genius?“ und mit 12 Tests á 15 Aufgaben lädt er einen ein, diese Frage zu beantworten. James Plaskett ist ein schillernder Charakter mit aggressivem, taktisch betontem Spiel, der sich noch auf anderen Gebieten als dem Schach versucht hat. So verfasste er unter dem Titel Coincidences ein okkult angehauchtes Buch über Zufälle, das zumindest von origineller Denkweise zeugt. Verheiratet ist er mit Fiona-Pitt Ketley, einer Schriftstellerin, die schon zahlreiche Gedichtbände, Romane und Anthologien veröffentlicht hat, darunter so schöne Titel wie The Literary Companion to Sex, The Literary Companion to Low Life und The Misfortunes of Nigel.
Vielleicht wirkt diese Nähe zur Literatur ansteckend. Denn wenn Taktikbücher auch relativ wenig Möglichkeiten zur Entfaltung stilistischer Kunst geben, so glänzt Plaskett in seinen Kommentaren zu den Lösungen der Aufgaben. Sie heben dieses Buch von den üblichen Testbüchern ab. Anstatt nur trockene Varianten zu präsentieren, verleiht Plaskett den Lösungen durch seinen persönlichen Stil ein ganz eigenes Flair.

Die Aufgaben selbst folgen den üblichen Mustern: jeder Test beginnt mit recht einfachen Stellungen und wird dann allmählich schwieriger. Entsprechend mehr Punkte kann man erzielen. Natürlich ist das Punktesystem recht willkürlich, aber trotzdem macht es Spaß, wenn man wenigstens einen Anreiz hat, der über das reine Lösen der Aufgabe hinausgeht. Eine kleine Besonderheit ist dabei die Rubrik „Ask a Grandmaster“. Hier kann man die Lösungshilfen lesen, wenn man bereit ist, Punktabzüge hinzunehmen.

FAZIT

Alles in allem ein unterhaltsames Buch, was den vergleichsweise hohen Preis erträglicher macht.

Istvan Pongó,
Die Geheimnisse der Schachtaktik, Bd. 1+2,
Kecskemet: Caissa, 2001.
Bd. 1: Entscheidender Materieller Vorteil, 319 S., kartoniert, 19,80 Euro;
Bd. 2: Mattkombinationen, 244 S., kartoniert, 17,80 Euro

Wem all das noch nicht reicht und umfangreiche Aufgabensammlungen für noch intensiveres Taktiktraining sucht, der ist mit István Pongós Geheimnisse der Schachtaktik Band 1+2 oder der im Informator Verlag erscheinenden Anthologie der Schachkombinationen gut beraten. Pongó liefert in seinen beiden Bänden 1845 thematisch geordnete Kombinationen. Nach einer kurzen Einführung in die jeweiligen Motive folgen Übungsaufgaben. Zwischen den einzelnen Kapiteln gibt es als besonderes Bonbon immer eine so genannte „Perle“, eine ästhetisch besonders ansprechende oder tiefe Kombination.

FAZIT

Insgesamt gesehen sind die Aufgaben recht anspruchsvoll und wohl nur von begnadeten Taktikern auf den ersten Blick zu lösen. Alle anderen finden hier reichlich Stoff zum Üben.

Alexander Matanovic, (Hrsg.),
Anthologie der Schachkombinationen,
Belgrad: Chess Informant, 2002,
423 S., gebunden,
28,00 Euro

Noch mehr Übungsaufgaben enthält die Anthologie der Schachkombinationen. 2001 thematisch geordnete Aufgaben laden zum Lösen ein. Erklärungen gibt es hier nicht, der Informator bewältigt alles mit Symbolen und einem nach Buchstaben und Zahlen angeordneten Kategoriensystem – genau wie Pongós Buch ein weiteres Beispiel für die Klassifikation von taktischen Motiven – allen anderen Behauptungen zum Trotz.

Diese Anthologie ist eine Freude für den Puristen: meist finden sich neun Diagramme auf einer Seite, stets gilt es den Zug zu finden, der gewinnt oder Remis macht. Am Ende des jeweiligen Kapitels folgen dann die Lösungen.

FAZIT

Auch wenn es Geschmackssache ist: Mir hat diese Anthologie etwas besser gefallen als Pongós Band über Schachtaktik. Mit einem stabilen Einband, sauber gedruckten Diagrammen und einer übersichtlichen Gestaltung ist das Buch bestens für das Taktiktraining geeignet.