KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ZEITLOS UND VERSPÄTET:
NEUES VOM KARL

Von FM Johannes Fischer

Bei dem Namen hatte man eigentlich schon früher damit gerechnet: Jetzt endlich widmet sich die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit in ihrer Ausgabe vom 3. April 2003 schwerpunktmäßig dem Thema Zeit. Man erfährt u.a. wer der geduldigste Mensch aller Zeiten war, lernt abseitige Sexualpraktiken der Shaolin-Mönche kennen und bekommt erzählt, warum die Uhrzeiger in der Werbung immer auf zehn vor bzw. zehn nach stehen. Angeblich übermitteln die hochstehenden Zeiger eine positive Botschaft.

Schach wird zwei Mal erwähnt. Einmal natürlich in der wöchentlichen Kolumne von Helmut Pfleger, der sich mit der Rechengeschwindigkeit Deep Juniors befasst, und dann noch etwas versteckter in der Aufzeichnung eines Gesprächs mit einem Paar, das seit über 50 Jahren verheiratet ist. Sie machen einen harmonischen Eindruck. Noch kurz vor dem Interview spielte er mit Freunden Schach und vielleicht trug dies Hobby ja zu der glücklichen Ehe bei.

Auch Karl wird gelobt. Aber nicht, weil sich die erste überregionale Ausgabe unseres Hefts bereits vor zwei Jahren unter dem forschen Titel „Tempo“ des zeitlosen Themas angenommen hatte und leider auch für Dinge, die eigentlich nicht ermutigt werden sollten. Zeit-Autorin Evelyn Finger singt ein wenig überzeugendes „Lob der Unpünktlichkeit“ – und da sind wir betroffen. Denn bedauerlicherweise erscheint der neue Karl leicht verspätet. Für Ende März angekündigt, wird er leider erst in den nächsten Tagen beim Zeitschriftenhändler bzw. im Briefkasten sein. Und trotz des Lobs von Frau Finger: Wir bitten um Entschuldigung.

SCHWERPUNKT SCHÖNHEIT: DER NEUE KARL

Allerdings widmet sich auch das neue Heft einem zeitlosen Thema: Der Schönheit. Unter anderem stellt David Friedgood, zusammen mit GM Jonathan Levitt Autor des Buches Secrets of Spectacular Chess, eine ästhetische Theorie der Schönheit im Schach vor, Karsten Müller zeigt die fünf schönsten Kombinationen der Schachgeschichte und der Studienkomponist Jürgen Fleck und Arno Zude, der Weltmeister im Problemlösen, weihen in die Geheimnisse ihrer Kunst ein. Ulrich Dirr, verantwortlich für die schöne Gestaltung der ChessGate-Bücher und zusammen mit Stefan Kindermann Autor eines viel beachteten und gelobten Werkes über Französisch-Winawer mit 7.Dg4 0-0, spricht über seine Leidenschaft für das Schach, den Kampf und schöne Bücher.

Eine schöne Kombination und ein Sieg über einen Großmeister gelang ihm in der folgenden Kurzpartie:


PAETHZ – DIRR
Bad Wörishofen 1994

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Sge2 0-0 6.Sg3 c6 7.Le2 a6 8.a4 a5 9.h4 h5 10.Le3 Sa6 11.f3 e5 12.d5 Sd7 13.Sf1 Sdc5 14.Sd2 Db6 15.Db1 Sb4 16.Sb3 Scd3+ 17.Kd2

17…Dxe3+ 0-1

Dieses Damenopfer auf e3, das den weißen König einem vernichtenden Läuferschach auf h6 ausliefert, erinnert an eine berühmte Vorgängerpartie:

LETELIER – FISCHER
Olympiade Leipzig 1960

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 0-0 5.e5 Se8 6.f4 d6 7.Le3 c5 8.dxc5 Sc6 9.cxd6 exd6 10.Se4 Lf5 11.Sg3 Le6 12.Sf3 Dc7 13.Db1 dxe5 14.f5 e4 15.fxe6 exf3 16.gxf3 f5 17.f4 Sf6 18.Le2 Tfe8 19.Kf2 Txe6 20.Te1 Tae8 21.Lf3

21…Txe3 22.Txe3 Txe3 23.Kxe3 Dxf4+ 0-1

BOBBY WURDE 60

Eine gute Gelegenheit für einen ebenfalls verspäteten Geburtstagsgruß an Bobby Fischer. Er wurde vor einem Monat am 9. März 60 Jahre alt. Karl 2/2002 hatte sich im Juni letztes Jahres mit dem „Mythos Fischer“ beschäftigt. Was gibt es Neues vom exzentrischen Genie?

Bobby Fischer,
Meine 60 denkwürdigen Partien,
Rattmann Verlag 2002,
313 S., gebunden,
27,90 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Rattmann-Verlag zur Verfügung gestellt.)

Erfreulich ist, dass die deutsche Neuauflage seiner 60 Denkwürdigen Partien – in der man übrigens auch die Partie gegen Letelier findet – endlich erschienen ist: Neu gesetzt, mit verbesserter Übersetzung, einfach ein ganz neues Buch. Die alte deutsche Ausgabe war schon lange vergriffen und litt unter schlechtem Layout und einer unglücklichen, allzu wörtlichen Übersetzung. Die Neuauflage glänzt mit schönem Satz, zwei Diagrammen pro Seite und kritischen Anmerkungen zu Analysen von Fischer. Die neue Übersetzung hätte allerdings durchaus idiomatischer sein können, um auch im Deutschen ein Gefühl für Fischers direkte, emotional gefärbte Sprache zu vermitteln.

Dennoch eine gelungene Neuauflage, die eigentlich nur ein Problem aufwirft: Soll man sich das Buch auch dann kaufen, wenn man die alte Ausgabe bereits besitzt? Keine leichte Frage. Wer Fischers 60 Denkwürdige Partien noch nicht kennt, hat es da leichter: Er oder sie sollte sich diesen Klassiker umgehend besorgen.

GERÜCHTE UND SPEKULATIONEN

Ansonsten hält die Debatte um Fischer an. Belebt wurde sie u.a. durch einen langen Artikel in der renommierten amerikanischen Zeitschrift Atlantic, in dem Rene Chun unter dem Titel „Bobby Fischer’s Pathetic Endgame: Paranoia, hubris and hatred – the unraveling of the greatest chess player ever“ einen Überblick über Fischers Schachkarriere gibt und sich dann ausführlich mit seiner augenblicklichen Verfassung, seinem Antisemitismus, seiner Paranoia und seinen Wahnvorstellungen widmet.

Glaubt man dem Artikel, lebt Fischer zur Zeit in Japan, weil dort die Gefahr, in der Öffentlichkeit erkannt zu werden, gering ist, es kaum Juden in Japan gibt und Fischer neben der japanischen Küche die angebliche Unterwürfigkeit japanischer Frauen schätzt; außerdem meldet Rene Chun, Fischer sei im Jahre 2000 Vater geworden. Die Mutter seines Kindes sei eine in Manila auf den Philippinen lebende Philippinin chinesischer Abstammung.

Es fällt schwer zu entscheiden, welche dieser Behauptungen stimmen und welche lediglich spektakuläre Gerüchte sind. Leichter zu prüfen ist der erste Teil des Artikels, der sich Fischers Schachkarriere widmet. Und dort leistet sich Chun einige Ungenauigkeiten. Ein paar Beispiele: Chun schreibt, dass Fischer für seine berühmte Partie gegen Donald Byrne aus dem Lessing-Rosenwald Gedenkturnier 1956 „den Schönheitspreis gewann, eine jährlich vergebene Auszeichnung, mit der besonders einfallsreiche Partien geehrt werden“, was keine besonders guten Kenntnisse der Vergabe von Schönheitspreisen verrät.

Fischers nach seinem Misserfolg im Kandidatenturnier von Curacao 1962 in Sports Illustrated veröffentlichter Artikel, in dem er „die Russen“ beschuldigt, das Turnier manipuliert zu haben, wird mehrfach als „Interview“ bezeichnet, was darauf schließen lässt, dass Rene Chun den Artikel selbst nicht gelesen hat.

Über den Beginn des Wettkampfes in Reykjavik heißt es: „Fischer spielte anfänglich schlecht und Spasski gewann die erste Partie leicht …. Fischer weigerte sich, zur zweiten Partie anzutreten, wenn nicht alle Kameras aus dem Spiellokal entfernt würden. … Schließlich wurde Fischer gewarnt, die zweite Partie würde Spasski gutgeschrieben, wenn er weiter auf seinen Forderungen beharrte. Fischer glaubte zu Unrecht [die Veranstalter] würden bluffen und verlor die Partie schließlich kampflos.“ Auch dies ist keine Meisterleistung an Recherchekunst. Bekanntlich verlor Fischer die erste Partie, weil ihm in ausgeglichener Stellung ein für ihn untypisches Versehen unterlief; und die zweite Partie verlor er tatsächlich, weil er aus Protest gegen die Kameras nicht erschien – aber die Disqualifikation war keine besondere Drohung der Veranstalter, sondern ist bekanntlich übliche Praxis bei Schachturnieren.

Solche Ungenauigkeiten verraten eine Tendenz, Fischer wenn möglich in schlechtem Licht erscheinen zu lassen. Typisch dafür ist folgende Anekdote. Unter Berufung auf einen gewissen Don Schultz, der angeblich Fischers Sekundant in Reykajvik war, behauptet Chun, Fischer hätte in Reykjavik kaum je Interesse an der Analyse von Hängepartien gezeigt und legt ihm die folgenden Worte in den Mund: „‚Was soll das heißen, analysieren? Der Bursche [Spasski] ist ein Patzer. Lass uns bowlen gehen.'“ Angesichts von Fischers schachlichem Fanatismus und zahlreichen Berichten anderer Großmeister, Fischer hätte auch bei weniger wichtigen Kämpfen oft die ganze Nacht mit Analysen verbracht, fällt es schwer, diese Geschichte zu glauben.
All das wirkt so, als ob Rene Chun vom Schach nicht viel versteht, aber zahlreiche Interviews mit den einschlägigen Experten und solchen, die sich dafür ausgeben, geführt hat, um daraus anschließend spektakulären Klatsch zu destillieren. Am Ende fällt Chun das folgende Urteil: „Einst einer der berühmtesten Männer der Welt, ist Fischer jetzt wenig mehr als ein Geist – eine schrille, entleibte Stimme, die nur in fernen Ländern gehört wird“.

Dessen ungeachtet hat der Artikel eine lang anhaltende Debatte im „Bulletin Board“ des ChessCafe ausgelöst. Wer wissen möchte, was vor allem amerikanische Schachfans über Fischer denken, dem sei diese Diskussion ans Herz gelegt. Grundsätzlich Interessantes zum Thema verrät natürlich auch der oben erwähnte Karl mit Schwerpunkt Fischer.

Und noch eine Schlussbemerkung zum Anfangsthema: Nach zwei Jahren KARL ist es eigentlich Zeit für ein Abonnement. Auch die älteren Ausgaben sind noch allesamt erhältlich. Bislang sind folgende Schwerpunkte erschienen: Tempo, Internet, Wunderkinder, 125 Jahre DSB, Mythos Fischer, Bundesliga, Computerschach und nun Schönheit. Einzelne oder mehrere Ausgaben können Sie hier bestellen.