KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ZWEIMAL SAKAEW (I) :

EINE WAFFE GEGEN GRUENFELD-INDISCH

Von FM Erik Zude

Sakaev Gruenfeld Cover

Konstantin Sakaev,
How to Get the Edge Against the Gruenfeld
Chess Stars Openings 2004,
170 Seiten,
23,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

In How to Get the Edge Against the Gruenfeld schlägt Großmeister Konstantin Sakaew als Waffe gegen Grünfeld-Indisch die Abtauschvariante vor. Sakaew hat sich in den letzten Jahren fest im Elo-Bereich um 2650 etabliert und ist durch einige spektakuläre Siege gegen Grünfeld-Indisch aufgefallen.

Das Buch ist in englischer Sprache erschienen. Sakaew diskutiert in der nach 1. d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cd5: Sd5: 5.e4 Sc3: 6.bc3: Lg7 7.Lc4 entstehenden Stellung alle relevanten Abspiele für Schwarz. Sieht man von seltenen schwarzen Abweichungen vor dem 7. Zug ab, enthält das Buch also ein komplettes Repertoire für Weiss gegen Grünfeld-Indisch. Sakaew empfiehlt jedoch für Weiss mehrere Wahlmöglichkeiten für den Fall, dass in einer der hoch aktuellen Varianten schwarze Neuerungen dem Weissen das Leben schwer machen. Dadurch ist die Abtauschvariante auch aus schwarzer Sicht nicht ganz, aber beinahe erschöpfend dargestellt. Sakaew konzentriert seine Betrachtungen auf die Eröffnung. Vollständige Partien werden nur in Ausahmefällen gezeigt, wo sie eröffnungstheoretisch relevant sind.

Das Inhaltsverzeichnis ist auch gleichzeitig der Varianten-Index:

  • 1. d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cd5: Sd5: 5.e4 Sc3: 6.bc3: Lg7 7.Lc4
  • Kapitel 1 7. … 0-0 8. Se2 seltenere Abweichungen des schwarzen im 8. oder 9. Zug
  • Kapitel 2 7. … c5 8.Se2 Sc6 9.Le3 cd4: 10.cd4:
  • Kapitel 3 7. … c5 8.Se2 Sc6 9.Le3 0-0 10.0-0 cd4:
  • Kapitel 4 10. … Dc7
  • Kapitel 5 10. … Ld7
  • Kapitel 6 10. … Lg4 verschiedenes
  • Kapitel 7 10. … Lg4 11.f3 Sa5 12.Ld3 cd4: 13.cd4: Le6 14.d5
  • Kapitel 8 10. … Lg4 11.f3 Sa5 12.Ld3 cd4: 13.cd4: Le6 14.Tc1
  • Kapitel 9 10. … Lg4 11.f3 Lf7:+

Die Hauptvarianten in Kapitel 7 bis 9 stellen mit jeweils knapp 30 Seiten den Löwenanteil des Buches dar.

Das Material ist durchweg aktuell, Redaktionsschluss war der 1. Februar 2004. Es finden sich viele eigene Analysen Sakaews, die meist sehr detailliert und mit vielen Pointen gespickt sind.

Das Fehlen eines eigenständigen Varianten-Index muss natürlich bemängelt werden, ist jedoch zu verkraften, da auf Zugumstellungen hingewiesen wird und diese auch leicht zu durchschauen sind.

Das Material ist sehr übersichtlich dargestellt, die Kapitel sind nicht zu lang und der Leser muss sich auch nicht durch zahlreiche Unterkapitel der Art „A14224“ etc. quälen, wie sie leider noch in dem einen oder anderen Eröffnungsbuch auffallen. Die höchste Verschachtelung ist einmal ein b3b1 und b3b2, aber das ist schon eine Ausnahme. Der Leser behält den Überblick und kann gesuchte Varianten leicht finden, auch wenn die Art der Untergliederung nicht in jedem Kapitel dieselbe ist.

Die Aufmachung des Bandes, Druck- und Papierqualität sind sehr gut und entsprechen dem üblichen Standard. Leider müssen jedoch noch zwei eher formale Mängel angesprochen werden: Neben dem nicht vorhandenen Varianten-Index glänzt auch das Literaturverzeichnis durch Abwesenheit. Wir erfahren also nicht, welche Quellen der Autor verwendet hat, bzw. welche Literatur es noch zu diesem Thema gibt. Der Leser muss also anhand der präsentierten Varianten und Partien spekulieren, ob Konstantin Sakaew z.B. den Artikel von Alon Greenfeld im New In Chess Jahrbuch 68 verwendet hat. Dass andere Autoren somit auch um die Anerkennung für ihre Beiträge kommen, steht auf einem anderen Blatt.

Der zweite Mangel betrifft die Sprache. Die Übersetzung ins Englische wurde von GM Jewgeni Ermenkow erledigt. Zwar liest sich der Text recht einfach und flüssig und ist auch für nur mäßig mit dem Englischen vertraute Leser gut verständlich. Der oft ungewöhnliche Ausdruck lässt jedoch vermuten, dass Englisch nicht die Muttersprache Ermenkows ist. Liebhaber der englischen Sprache kommen also leider nicht auf Ihre Kosten.

Damit sind die wesentlichen Kritikpunkte jedoch schon abgearbeitet: Es gibt viel mehr gutes zu berichten!

Am besten hat mir gefallen, wie Sakaew dem Leser die jeweiligen Stellungsbilder erklärt, welche Pläne es für beide Seiten gibt, welche Funktionen die einzelnen Figuren ausüben und ähnliches.

Ein Beispiel ist hier die Partie K. Sakaew – V. Below, Krasnojarsk 2003, die das Hauptabspiel des 5. Kapitels darstellt. In dieser spektakulären Partie hat Sakaew eine Figur für zwei Bauern geopfert und mit Hilfe seiner zentralen Bauernphalanx einen mustergültigen Königsangriff inszeniert. Sakaews Analyse dieser Partie ist höchst interessant und lehrreich: Er begnügt sich nicht mit dem Abdruck der Varianten und einer Stellungsbewertung. Stets beschreibt er die wesentlichen Stellungsmerkmale oder Pläne, z.B. dass der schwarze Mehrspringer einfach zu lange braucht, um bei der Verteidigung helfen zu können, oder dass Weiß die schwachen schwarzen Felder in der schwarzen Königsstellung für seinen Angriff ausnutzen muss. Diese Art von Erklärungen findet sich durchgehend im gesamten Buch.

Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung über die wesentlichen Ideen der betrachteten Varianten. Man erfährt auch, ob die Varianten noch theoretisch aktuell sind, bzw. wann sie es waren, welcher Einschätzung sie momentan unterliegen und ob ein hoher Lernaufwand erforderlich ist, um die Variante in der Praxis anzuwenden.

Sehr lehrreich ist auch der Aufbau des Bandes. Die Reihenfolge der Varianten – zunächst die weniger gebräuchlichen, zum Schluss die Hauptvarianten – ist möglicherweise standardmäßig gewählt worden, wie auch schon in zahlreichen anderen Eröffnungsbüchern zuvor. Für das Verständnis des Abtauschsystems ist dies jedoch sehr hilfreich: In den ersten Kapiteln wird dargestellt, wie gefährlich das weiße Bauernzentrum sein kann, und wie Weiß es einsetzen muss, falls Schwarz es nicht frühzeitig energisch bekämpft. So z.B. in den Varianten 8…b6 oder 8…Dd7 im 1. Kapitel, in denen Schwarz schon früh in eine heftige Attacke gerät. Mir gefällt hier an Sakaews Erklärungen, wie er immer wieder darauf hinweist, dass Weiß sein Bauernzentrum zügig für einen Angriff auf den schwarzen König einsetzen kann und wie man das macht. Neben den Hebeln f4-f5 und h4-h5 z.B. auch manchmal durch den Vormarsch e4-e5 und einem Angriff auf die schwarzen Felder, falls Schwarz das entstehende Loch auf d5 nicht gut ausnützen kann. In den späteren Kapiteln kommen diese Motive dann immer wieder vor.

Sakaew gibt dem Weißen drei Hauptvarianten an die Hand: Bronsteins Qualitätsopfer, das lange Zeit als zu riskant galt, das Bauernopfer 14. Tc1 in Kapitel 8 sowie die Sevilla-Variante 12.Lf7:+, die nach ihrem Einsatz im Weltmeisterschaftskampf Karpow – Kasparow, Sevilla 1987, wieder aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht ist. Dadurch wird verschiedenen Geschmäckern eine Wahlmöglichkeit gegeben. Alle drei Varianten erfordern einiges an Theoriestudium.

Am meisten betrifft dies Bronsteins Qualitätsopfer. Angriffsspieler, die sich nicht scheuen, alles auf den Königsangriff zu setzen, und nach der anfänglichen Qualität üblicherweise auch noch eine Figur zu opfern, sind hier gut aufgehoben. Allerdings kommt man nicht umhin, sich durch zahlreiche scharfe Varianten zu arbeiten, die bis ca. Zug 25 wenig Spielraum für Improvisationen am Brett bieten. Dies betrifft aber auch den Schwarzen. Wer auf a1 zugreift, sollte über die weißen Einschläge auf g6 informiert sein! Theorie-Unkenntnis führt fast zwangsläufig zu einer Null in der Tabelle. Sakaews Darstellung baut – so spekuliere ich, s.o. – auf dem hervorragenden Artikel von Alon Greenfeld im NIC-Jahrbuch 68 auf und führt dessen Analysen noch deutlich weiter. Es mag mutig erscheinen, dass er frühere Analysen von M. Prusikin bzw. V. Zakartsow um den 30. Zug herum verlässt und seine Hauptvariante bis zum 47. (!) Zug analysiert. Lehrreich ist dies aber allemal! Die Stellungen sind stets messerscharf, die üblichen Materialverteilungen sind Figur oder Turm gegen drei oder vier Bauern, teilweise mit Damen auf dem Brett. Da ist eine längere, wenn auch gewagte Analyse bedeutend aussagekräftiger als es eine großmeisterliche Floskel der Art “ … mit guter Kompensation …“ wäre. Laut Sakaew kann sich Schwarz gegen das Qualitätsopfer verteidigen, hat allerdings kaum Gewinnchancen.

Das Bauernopfer, das durch 14. Tc1 eingeleitet wird, ist ebenfalls sehr verwickelt. Allerdings kommen beide Seiten mit deutlich weniger Theoriewissen aus. Sakaew bietet auch hier sehr viel an eigenen Analysen an. Seiner Meinung nach hat Weiß gute Kompensation für den Bauern und Chancen auf einen Eröffnungsvorteil.

Für Spieler, die lieber einen Bauern einheimsen als einen zu opfern, wird im abschließenden Kapitel die Sevilla-Variante analysiert. Weiß hat laut Sakaew eine solide Stellung, auch wenn er zunächst Schwarz an der Entfaltung seiner Initiative hindern muss. Sakaew sieht, eröffnungstheoretisch gesehen, Weiß im Vorteil, auch wenn Schwarz seht gute Remischancen hat und das Material auch oft schnell reduziert wird.

Insgesamt ein sehr gutes Eröffnungsbuch! Es wird ein komplettes Repertoire gegen Grünfeld-Indisch vorgestellt, das Material ist aktuell und übersichtlich aufbereitet, und die beiderseitigen Ideen und Pläne werden gut verständlich erklärt. Das wichtigste Kriterium ist natürlich die Qualität der angebotenen Analysen und Bewertungen. Diese ist meines Erachtens auf der höchsten Stufe anzusiedeln, insbesondere erscheinen mir die Einschätzungen Sakaews durchweg realistisch, auch wenn er die weiße Seite vertritt.

FAZIT

Für wen ist das Buch geeignet?
In erster Linie natürlich für Spieler, die eine scharfe Waffe gegen Grünfeld-Indisch suchen und dafür auch etwas Zeit investieren wollen. Aber auch Grünfeld-Anhänger, die auf mittlerem oder hohem Niveau ihre Verteidigung in der Turnierpraxis anwenden wollen, werden um das Buch nicht herum kommen. Zu groß ist die Gefahr, dass einen der Gegner mit einer Sakaew-Empfehlung vor große Schwierigkeiten stellt.