KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

MEHR ALS NUR EIN RATGEBER

von Thomas Feldtmann

Bronzniks 1.d4 - Ratgeber gegen Unorthodoxe Verteidigungen Cover

Valeri Bronznik,
1.d4 – Ratgeber gegen
Unorthodoxe Verteidigungen
237 Seiten, gebunden,
19,80 Euro

Das Belegexemplar wurden freundlicherweise vom Schachverlag Kania zur Verfügung gestellt. 

Der Kania-Verlag mit Sitz im baden-württembergischen Schwieberdingen tut sich seit den Neunziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit hochklassigen Arbeiten über interessante Eröffnungen abseits des Mainstreams hervor. Angesichts dieser Expertise verdient es besondere Beachtung, wenn ausgerechnet Kania einen Ratgeber gegen Unorthodoxe Verteidigungen nach 1.d4 herausgibt. Als Autor ist kein geringerer als der aus der Ukraine stammende und mittlerweile seit Jahren in Stuttgart lebende IM Valeri Bronznik verpflichtet worden, der sich insbesondere mit seinem Standardwerk über die Tschigorin-Verteidigung weltweit Anerkennung als Eröffnungstheoretiker erworben hat.

Da es keine allgemein anerkannte Definition des Begriffes „unorthodoxe Verteidigung“ gibt, folgt als Orientierung für den Leser zunächst eine komplette Liste der im Buch behandelten Systeme.

TEIL I: Verschiedene 1… Züge

1.d4 e5 (Englund-Gambit)

1.d4 c5 2.d5 f5 (Holländisches Benoni)

1.d4 c5 2.d5 Sf6 3.Sc3 Da5 (Wusel)

1.d4 b5 (Polnische Verteidigung)

1.d4 b6 (Owen-Verteidigung)

1.d4 Sc6

1.d4 e6 2.c4 Lb4+ (Keres-Verteidigung)

1.d4 e6 2.c4 b6 (Englische Verteidigung)

TEIL II: Variationen im Damengambit

1.d4 d5 2.c4 Sf6 (Marshall-Verteidigung)

1.d4 d5 2.c4 c5 (Österreichische Verteidigung)

1.d4 d5 2.c4 Lf5 (Baltische Verteidigung)

1.d4 d5 2.c4 e5 (Albins Gegengambit)

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.cxd5 cxd4 (Schara-Hennig-Gambit)

1.d4 d5 2.c4 c6 3…e6 und 4… oder 5…f5 (Verzögerter Stonewall)

TEIL III: Indische Spezialitäten

Benoni mit Ld6 statt Fianchetto (Snake-Benoni)

1.d4 Sf6 2.c4 c5 3.d5 Se4 (Geier)

1.d4 Sf6 2.c4 e5 3.dxe5 Se4 (Fajarowicz-Gambit)

1.d4 Sf6 2.c4 e5 3.dxe5 Sg4 (Budapester Gambit)

1.d4 Sf6 2.c4 Sc6 (Knight’s Tango)

Es überrascht nicht, dass Bronznik die Tschigorin-Verteidigung nicht als unorthodox betrachtet. Die Wahl der Systeme ist auf 1.d4-Spieler zugeschnitten, die sowohl gegen 1…d5 als auch gegen indische Systeme mit 2.c4 und 3.Sc3 oder 3.Sf3 zielstrebig auf die klassischen Hauptvarianten zusteuern. Auch für Katalanisch-Anhänger ist der größte Teil des Stoffes relevant, während Damenbauerspieler zumindest mit den ersten sechs Kapiteln etwas anfangen können dürften.

Da man als Amateur bei der Pflege eines klassischen Eröffnungsrepertoires schon alle Hände voll zu tun hat, um in den Hauptvarianten auf dem Laufenden zu bleiben, werden die genannten unorthodoxen Verteidigungen und Gambits nicht selten vernachlässigt. Dabei ist keines dieser Systeme ohne Gift, und wenn es einen unvorbereitet erwischt, erweisen sich die Stellungsprobleme oft als zu anspruchsvoll, um sie am Brett befriedigend zu lösen. Selbst wenn der Blick in die Datenbank am Vorabend verraten hat, mit welchem hinterhältigen Gambit man bei seinem Gegner rechnen muss, wird der in der Regel trotzdem besser vorbereitet sein oder zumindest die resultierenden Stellungen besser verstehen. Andererseits wäre es natürlich nicht ökonomisch, den seltenen Eröffnungen ebenso viel Zeit und Energie zu widmen wie den Hauptvarianten. Um dieses Dilemma zu lösen, bietet Bronznik ein übersichtliches und gedächtnisschonendes Repertoire an, dessen Ziel nicht darin besteht, die Spezialvariante des Gegners brutalstmöglich zu widerlegen, sondern mit möglichst einfachen Mitteln risikolos einen kleinen Vorteil zu erlangen. Wo dieser Ansatz nicht zum Erfolg führt, schreckt Bronznik jedoch auch nicht vor komplizierten Varianten zurück, zum Beispiel gegen die englische Verteidigung oder Albins Gegengambit. Insgesamt übertreffen Umfang und Gründlichkeit der Bronznikschen Analysen die meisten Repertoirebücher bei Weitem. Eine ernsthafte Konkurrenz stellen lediglich die beiden Bände von Boris Avrukhs Grandmaster Repertoire 1.d4 (s. Rezension Bd.1, Bd. 2 ) aus dem Quality-Chess-Verlag dar. An dieser Stelle sei jedoch gleich erwähnt, dass sich der Kauf von Bronzniks Buch auch für die Besitzer der Avrukh-Bände lohnt, da Bronznik teilweise alternative Systeme vorschlägt und bei den gemeinsamen Empfehlungen die Analysen des israelischen Großmeister gründlich unter die Lupe nimmt.

Bronznik präsentiert sein Material in Form von Beispielpartien, deren Eröffnungsphasen ausführlich kommentiert werden. Jedem Kapitel geht eine informative Einleitung voran und folgt ein wirklich hilfreiches Fazit, in das man auch einen Blick werfen sollte, wenn man im Variantengestrüpp einmal die Übersicht verliert.

Sehr erfreulich, da für Schachautoren leider keine Selbstverständlichkeit, ist Bronzniks gewissenhafte Auswertung der einschlägigen Literatur. Bei der Beschäftigung mit unorthodoxen Eröffnungen führt kein Weg am Magazin Kaissiber und einigen älteren Arbeiten seines Chefredakteurs FM Stefan Bücker vorbei, die von Avrukh nicht zitiert werden. Bronznik kommt hier seine Mehrsprachigkeit zu Nutze; auch ein Artikel aus einer sowjetischen Schachzeitschrift hat Eingang ins Literaturverzeichnis gefunden. Wenn Bronznik einen Leserbrief zitiert, nennt er den vollständigen Namen des Absenders. Mit einigen anderen Autoren scheint Bronznik im persönlichen Kontakt zu stehen, zum Beispiel mit dem Namensgeber des Zilbermints-Gambits 1.d4 e5 2.dxe5 Sc6 3.Sf3 Sge7. An jeder Stelle wird klar, bis wohin Bronznik abschreibt und wo seine eigene Analysearbeit einsetzt; stammt eine Neuerung nicht von ihm, sondern von seinem Engine, wird auch dies erwähnt.

Bei der Lektüre von Bronzniks Buch gewinnt man den Eindruck, dass diese ausführliche Würdigung der Leistung Anderer nicht nur der Philosophie des Kania-Verlags entspricht, sondern auch dem Autor ein persönliches Bedürfnis ist. Selten habe ich ein Schachbuch gelesen, dass in einem derart sympathisch-bescheidenen Stil geschrieben ist. Fremde Ideen werden nicht nur erwähnt, sondern selbst dann als „schön“ oder „sehr interessant“ bezeichnet, wenn Bronznik eine Widerlegung gefunden hat, Konkurrenz wie die Bücher von Avrukh wird in den höchsten Tönen gelobt, und wenn ein Großmeister in einer der Beispielpartien einen haarsträubenden Fehler produziert, erklärt Bronznik, wie so etwas selbst dem stärksten Spieler in Zeitnot passieren kann. Bei aller Freundlichkeit und Bescheidenheit schreibt Bronznik sehr flüssig und lebendig. Da er sich häufig direkt an seine Adressaten wendet, glaubt man sich beim Lesen mitunter in einer angeregten Diskussion mit einem Vereinskollegen zu befinden. Teilweise liest sich der Text wie eine Abenteuergeschichte, wenn Bronznik die Entwicklung einer Variante in jüngerer Zeit schildert und dabei nach und nach verschiedene Schachspieler als Helden die Bühne betreten. Immer wieder kommt Bronzniks langjährige Erfahrung als Trainer zum Tragen. Auch wenn in seinem Ratgeber die konkreten Varianten im Vordergrund stehen, gibt Bronznik deutlich mehr strategische Erläuterungen als etwa Avrukh und Khalifman in ihren Repertoirewerken (letzterer beim Chess-Stars-Verlag). Darunter sind kleine Perlen; zum Beispiel erhält der Leser bei der Diskussion einer Nebenvariante des Geier-Systems kostenlos eine Minilektion über typische Pläne im Altbenoni.

Mehr noch als der Stil des Autors entscheidet die Qualität der Analysen über den Wert eines Eröffnungsbuches. Auch in dieser Hinsicht vermag Bronzniks Arbeit voll und ganz zu überzeugen. Dank der ehrlichen Quellenangaben ist offensichtlich, dass Bronznik alle kritischen Varianten gründlich mit dem Schachprogramm Rybka geprüft hat. Dabei folgt er nicht blind den Computerempfehlungen, sondern überstimmt gelegentlich seinen elektronischen Helfer, wozu er dankenswerterweise auch jeweils die Begründung mitliefert. Insbesondere vermeidet Bronznik in den Gambit-Systemen unnötigen Materialismus, wann immer es eine sichere und trotzdem vielversprechende Alternative gibt, womit er die Benutzerfreundlichkeit seines Repertoires beträchtlich erhöht. Auch wenn man das große fette N in den Büchern aus dem Kania-Verlag vergeblich sucht, mangelt es in Bronzniks Arbeit nicht an theoretischen Neuerungen. Immer wieder gelingt es ihm, die einschlägige Literatur auf drastische Weise zu korrigieren. Als ein Beispiel von vielen, das auch repräsentativ für Bronzniks Bescheidenheit steht, möchte ich die Nebenvariante 1.d4 d5 2.c4 e5 3.dxe5 d4 4.Sf3 Sc6 5.a3 Le6 6.Sbd2 Sge7 7.Sb3 Sf5 8.Dd3 a5 9.Lf4! („Eine von vielen wichtigen Ideen Avrukhs.“) a4 10.Sbd2 Le7 11.h4 h6 12.g3 0-0 anführen, in der der Großmeister nun 13.0-0-0 empfiehlt und mit 13…f6 14.exf6 Lxf6 15.Lh3 und weißem Vorteil fortsetzt. Bronznik merkt an, dass Schwarz viel stärker 13…Sa5! mit der Idee …c5 (oder …c6) nebst …b5 ziehen kann und tatsächlich kann einem in seinen Beispielvarianten angst und bange um den weißen König werden. Als Verbesserung für den Anziehenden schlägt Bronznik 13.g4! Sxh4 14.Sxh4 Lxh4 15.Sf3 vor, und nach zum Beispiel 15…g5 16.Txh4! gxh4 17.Lxh6 kann Schwarz bereits getrost das Handtuch werfen. Statt sich nun auf die Brust zu trommeln, da er seinen namhaften Theoretiker-Kollegen sozusagen in einer einzigen Variante gleich zweimal widerlegt hat, formuliert Bronznik als Fazit: „Somit wäre Avrukhs Idee 9.Lf4! gerettet.“

Wie auch Avrukh in seinem Mammutwerk betont, sollte der Anziehende seine Chancen gegen die sogenannten unorthodoxen Verteidigungen nicht überschätzen. Viele dieser Systeme sind nicht deswegen bei Spitzenspielern unpopulär, weil sie dem Weißen größeren Vorteil versprechen als die Hauptvarianten, sondern weil dieser Vorteil mit einfacheren Mitteln oder auf verschiedenen Wegen zu erzielen ist. Außerdem lehrt die Erfahrung, das das eine oder andere Gambit vielleicht einfach noch nicht in Mode gekommen ist und seine große Zeit noch vor sich hat. Schließlich gab es Zeiten, wo zum Beispiel auch das Marshall-Gambit oder das Anti-Moskau-Gambit als fragwürdig galten. In seiner ehrlichen Art bleibt natürlich auch Bronznik Realist, was die weißen Chancen angeht, zieht seine Schlussfolgerungen aber immer erst nach einer gründlichen Prüfung der etablierten Lehrmeinung. Ein beeindruckendes Beispiel für Bronzniks Arbeitsethos findet man in dem Kapitel über die englische Verteidigung 1.d4 e6 2.c4 b6. Nach 3.a3, was das programmatische …Lb4 ausschaltet, spricht die Statistik zur Zeit eindeutig für Weiß, und selbst der aus Bronzniks Sicht „einfach geniale Schachautor Ilya Odessky“ schätzt die schwarzen Chancen nach diesem Zug in seinem Standardwerk English Defence (Russian Chess House 2008) ausgesprochen pessimistisch ein. Statt diese Einschätzung einfach zu übernehmen und vielleicht durch ein paar neuere Partien zu unterstützen, findet Bronznik signifikante Verbesserungen von Odesskys Analysen und sieht bestenfalls einen Minivorteil für den Anziehenden. Für die Leser, die mit einem solchen Ausgang der Eröffnung nicht zufrieden sind, widmet er sich dann ausführlich dem ehrgeizigeren Zug 3.e4 und präsentiert auch hier zahlreiche neue Ideen. Etwas ähnliches geschieht im Kapitel über das Schara-Hennig-Gambit 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.cxd5 cxd4, in dem Bronznik eine Empfehlung für Weiß aus Lars Schandorffs Buch Playing the Queen’s Gambit (Quality Chess 2009) entkräftet. Tatsächlich muss Bronznik zugeben, in diesem System überhaupt keinen weißen Vorteil entdecken zu können. Das folgende Zitat spricht in seiner entwaffnenden Ehrlichkeit für sich: „Ja, ich weiß, das ist für uns d4-Spieler keine gute Nachricht. Aber was sollte ich machen? Mich auf die früheren Analysen stützen, noch ein paar schöne Varianten bringen, wo Weiß gewinnt [sic] und Sie (noch) zufrieden, aber unwissend lassen? Oder lieber zeigen, wo Schwarz sein Spiel gegenüber vorherigen Partien und Untersuchungen verbessern kann, damit Sie vielleicht ohne allzu großen Optimismus, aber mit mehr Wissen und Verständnis an die Sache gehen und eventuell selber an kritischen Stellen die eine oder andere Idee für Weiß finden?“ (Auf der Homepage des Kania-Verlags wird übrigens ein Buch von Herrn Bronznik über das Schara-Hennig-Gambit aus schwarzer Sicht angekündigt, das in Kürze erscheinen soll…)

Ich möchte diese Rezension mit ein paar Worten zur Arbeit des Verlegers abschließen: Satz und Layout haben sich bei Harald Keilhack in professionellen Händen befunden. Die klaren Diagramme, der günstig gewählte Satzspiegel sowie die sinnvolle Verwendung verschiedener Schriftgrößen und -stärken sorgen für eine gute Lesbarkeit auch bei variantenlastigen Abschnitten. Mit Fadenbindung, solidem Festeinband und hochwertigem Papier genügt das Erscheinungsbild des Buches durchaus auch bibliophilen Ansprüchen. Am Lektorat gibt es nichts auszusetzen, auch wenn mancher Leser Keilhacks Festhalten an der alten Rechtschreibung als spleenig empfinden mag. Die einzige nennenswerte Unterlassungssünde, die mir beim Lesen aufgefallen ist, findet sich in dem Kapitel über die Owen-Verteidigung, wo nach 1.d4 b6 2.e4 Lb7 3.Ld3 mit keinem Wort auf den Zug 3…f5 eingegangen wird. Wenn sich das Buch so gut verkauft, wie es das verdient, dürfte allerdings ohnehin bald eine Neuauflage fällig werden…

FAZIT

Mit 1.d4 – Ratgeber gegen Unorthodoxe Verteidigungen legt Valeri Bronznik ein weiteres Buch vor, das das Zeug zu einem Standardwerk hat, auch wenn es ausdrücklich nur als „Wegweiser“ gedacht ist. Bronzniks Arbeit zeichnet sich durch Sorgfalt, Ehrlichkeit und Leidenschaft aus. Die lehrreichen strategischen Erläuterungen einerseits und die exzellenten Analysen andererseits machen das Buch für Vereinsspieler und ambitionierte Turnierspieler gleichermaßen empfehlenswert.