KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

UNTERSCHIEDLICHE SCHACHAUFFASSUNGEN:
MICHAIL TAL UND PAUL KERES

Von FM Johannes Fischer

Keres gegen Tal
Foto: Archiv Heuer

Jede KARL-Ausgabe umfasst 66 Seiten DIN A4, soviel wie ein kleines Buch, auch wenn man die Werbung nicht berücksichtigt. Aber trotzdem reicht der Platz manchmal nicht aus. So wurden im Keres-Heft bei dem Artikel über Keres‘ Ergebnisse gegen die Weltmeister von Capablanca bis Karpow (KARL 2/2004, S.36-41) nur unkommentierte Partien veröffentlicht. Besonders bedauerlich war dieser Zwang zur Kürze bei der Partie Tal – Keres, Curacao 1962, denn hier haben sowohl Keres als auch Tal ausführliche Analysen veröffentlicht, die einen Einblick in die unterschiedliche Schachauffassung dieser beiden Angriffsspieler geben. Als Nachtrag hier deshalb diese Partie mit Zitaten aus den jeweiligen Originalkommentaren. Keres‘ Anmerkungen stammen aus dem Buch The Quest for Perfection , S. 170-174, während Tals Kommentare dem Buch Michail Tal: Sein Lebenswerk, Band 2: 1962-1973, S.6-9 entnommen sind, das kürzlich bei Chessgate erschienen ist.

TAL – KERES
Curacao 1962

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0–0 Le7 6.Te1 b5 7.Lb3 d6 8.c3 0–0 9.h3 Sa5 10.Lc2 c5 11.d4 Sd7 Eine Neuerung, die Keres für das Turnier in Curacao vorbereitet hatte. Wie er das gemacht hat, verrät er in dem Aufsatz „The Secret Workshop of a Grandmaster“ in How to Open a Chess Game , einem mittlerweile vergriffenen Buch, das Beiträge von Autoren wie Larsen, Portisch, Evans u.a. zu Aspekten des Eröffnungsstudiums versammelt. 12.Sbd2 cxd4 13.cxd4 Sc6 14.a3 exd4 15.Sb3 Sde5 16.Sfxd4 Lf6 17.Ld2 Tal gab diesem Zug ein Ruf-, Keres ein Fragezeichen.

Keres: „Tal strebt in jeder Stellung die größtmöglichen Verwicklungen an und kann einfach keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um sie herbeizuführen. Tatsächlich ist die mit dem Textzug eingeleitete Kombination sehr kompliziert, aber führt schließlich doch zu schwarzem Vorteil. Deshalb wäre es ratsamer gewesen, mit 17.Sxc6 Sxc6 18.Tb1 den Druck auf b2 zu nehmen.“

Tal: „Wahrscheinlich das einzige Mittel, um Eröffnungsvorteil zu kämpfen, obwohl Weiß damit eine schnelle Niederlage riskiert (wozu es in der Partie im Übrigen auch kam). Es ist keine andere Methode zu sehen, den Zentrumsspringer zu halten, denn Schwarz droht den Abtausch auf d4 gefolgt von Db6. Von dem von vielen Kommentatoren empfohlenen 17.Sxc6 Sxc6 18.f4 ‚mit guter Stellung‘ nahm ich wegen des einfachen 18…Le6 Abstand, denn danach ist es nicht ganz klar, worin das Übergewicht von Weiß eigentlich bestehen soll., denn schließlich ist der Springer b3 nicht im Spiel.“

17…Sxd4 18.Sxd4 Sd3 19.Sc6

Die Pointe von 17.Ld2 und der Auftakt zu komplizierten Verwicklungen. 19…Sxf2 20.Df3 Hier sind sich Tal und Keres einig – beide halten diesen Zug für einen Fehler. Wie es dazu kam, erklärt Tal: „In meinen einleitenden Betrachtungen hatte ich 20.Dh5 beabsichtigt. Nach 20…g6 entscheidet dann 21.Df3 und im Falle von 20….Db6 ist die folgende Variante möglich: 21.e5 Se4+ 22.Kh2 g6 23.exf6! gxh5 24.Lxe4 Lb7 25.La5 Dxc6 26.Lxc6 Lc6 27.Tad1 mit weißem Vorteil. Wenn Schwarz analog zur Partie 20…Sxh3+ 21.Kh2 Le5+ spielt, folgt 22.Dxe5! dxe5 23.Sxd8 Txd8 24.La5 mit materiellen Eroberungen. Bei der Überprüfung der letzten Variante sah ich plötzlich, dass Schwarz 24…Sxf4!?? 25.Lxd8 Txd8!! spielen könnte, wonach er mit zwei Bauern für die Qualität über eine verteidigungsfähige Stellung verfügt. Vielleicht stimmt diese Einschätzung sogar, doch leider läuft der Zug 25…Txd8 den Spielregeln zuwider. Somit musste ich mich wieder der Betrachtung des Zuges 20.Df3 zuwenden, der mir ebenfalls verlockend erschien, doch hierin steckte ein Fehler.“

Diese Ehrlichkeit ist typisch für Tal und nur wenige Schachspieler würden zugeben, einem Trugbild wie 25…Txd8 erlegen zu sein. Typisch ist auch, dass diese Variante voller Einfälle steckt, aber einer genauen Analyse nicht Stand hält. Wie Keres zeigt, kann Schwarz nach 20.Dh5 Sxh3+ 21.Kh2 in Vorteil kommen, wenn er nicht das von Tal angegebene 22…Le5+ spielt, sondern vorher den Zwischenzug 21…g6! einstreut. Nach 22.Df3 führt Le5+ zur Partie, „nur dass der Bauer auf g6 statt auf g7 steht, was keinen Unterschied macht“.

Tatsächlich dürfte dies die beste Entgegnung des Schwarzen auf 20.Dh5 darstellen. Aber auch die Variante, in der Tal der Rechenfehler unterlief, lässt sich für Schwarz verbessern: Nach 20.Dh5 Db6 21.e5 Se4+ 22.Kh2 empfiehlt Keres 22…Lxe5+! (anstelle des von Tal vorgeschlagenen 22…g6) 23.Sxe5 und jetzt folgt wieder ein Zwischenzug, nämlich Sf6!. Keres setzt danach mit 24.Dh4 dxe5 25.Lc3 Te8 fort und räumt dem Weißen allerhöchstens Ausgleichschancen ein. Bei der Überprüfung dieser Analyse stieß John Nunn jedoch auf eine weitere Möglichkeit für Weiß, nämlich 24.Lxh7+!

Nach 24…Sxh7 25.Sg6! fxg6 (oder 25…Td8 26.Se7+ Kh8 27.Dxf7) 26.Dd5+ Kh8 27.Dxa8 Lb7 28.De8! Lxg2 ( 28…Txe8 29.Txe8+ Sf8 30.Tf1±) 29.Le3! Txe8 30.Lxb6 Le4 ist das Endspiel laut Nunn etwas besser für Weiß. Doch zurück zur Partie.

20…Sxh3+ 21.Kh2 Ursprünglich wollte Tal 21.Kf1 spielen und hatte sich folgende Variante zurechtgelegt: Db6 22.e5 Lg4 23.Dg3 Dxc6?? 24.exf6 Dxc2 25.Dxg4 g6 26.Le3 „mit Gewinn des Springers h3“. Bei der Überprüfung der Variante stellte er jedoch fest, dass Schwarz im 23. Zug nicht auf c6 nehmen muss, sondern mit 23…Dg1# Matt setzen kann.

Feststellen zu müssen sich erneut verrechnet zu haben, brachte Tal wahrscheinlich aus dem Rhythmus, und so geht er hier an einer guten Verteidigungschance vorbei, auf die Keres und Nunn hingewiesen haben. Statt 23.Dg3 empfiehlt Keres 23.Le3, obwohl dann, wie er angibt, 23…Lxf3 24.Lxb6 Lxc6 „ausreicht, um den schwarzen Vorteil festzuhalten“. Besser scheint deshalb Nunns Vorschlag 23.Lxh7+ zu sein: 23…Kh8 (oder 23…Kxh7 24.De4+ nebst Le3 mit unklarer Stellung.) 24.De3 Dxc6 25.exf6 Kxh7 26.De4+ Dxe4 27.Txe4 Lf5 28.Td4 gxf6 29.gxh3 Lxh3+ 30.Kf2 und trotz der drei Mehrbauern bietet das Endspiel dem Schwarzen Nunn zufolge keine Gewinnchancen. Der Textzug 21…Kh2 stellt Schwarz keinerlei Probleme. Nach 21…Le5+ 22.Sxe5 dxe5 23.Ted1 Sf4 hat er einfach zwei Bauern mehr und gewinnt leicht. 24.g3 Se6 25.Lc3 Dg5 26.Td6 Dh6+ 27.Kg1 Sd4 28.Txh6 Sxf3+ 29.Kf2 gxh6 30.Kxf3 Te8 31.Th1 Kg7 32.Lb3 Lb7 33.Ld2 f5 34.Txh6 Tad8 35.Tb6 Lxe4+ 36.Ke2 Lf3+ 37.Ke1 f4 38.Lc3 fxg3 39.Txa6 Td4 40.Ta7+ Kh6 41.Tf7 0–1

Vergleicht man die Analysen von Tal und Keres, stellt man interessante Unterschiede fest. Keres geht es um die Wahrheit, er strebt nach Objektivität und sucht in der Analyse für beide Seiten nach dem jeweils besten Zug. Und egal, wie turbulent die Partie, wie brillant die Kombinationen oder spektakulär die Opfer waren – Keres‘ Anmerkungen bleiben stets sachlich. Auch was er während der Partie gedacht und gefühlt hat, behält er für sich. Die Person Keres tritt hinter das Schach zurück und geht darin auf.

Ganz anders Tal: Ihm geht es nicht um die Wahrheit, sondern um die Geschichte der Partie und Tals offen geäußerte Empfindungen und Gedanken machen seine Kommentare so lebendig. Auffällig dabei ist Tals Optimismus und sein Glaube an die Möglichkeiten der eigenen Stellung. Ja, seine Begeisterung für spektakuläre Ideen ist so groß, dass er sogar Varianten, die schön sind, aber nicht funktionieren, in der Analyse erwähnt.

Natürlich haben sowohl Keres‘ als auch Tals Herangehensweise ihren Reiz. Und wer sich von Keres‘ Analysen in Erstaunen versetzen lassen möchte, der kann zu seinen Ausgewählten Partien greifen – entweder zur einbändigen deutschen Ausgabe oder zur von John Nunn herausgegebenen, ergänzten und bearbeiteten zweibändigen Ausgabe (The Road to the Top und The Quest for Perfection). Und wer sich von Tal die Ideen hinter seinen Zügen zeigen lassen möchte, der kann das jetzt mit dem zweiten Band des auf drei Bände angelegten Lebenswerks tun, der vor kurzem auf Deutsch erschienen ist. Der erste Band erschien 1998 und schildert Tals Laufbahn von 1949 bis 1961. Der zweite Band behandelt die Jahre 1962 bis 1973 und enthält alle bekannten Partien, die Tal in diesem Zeitraum gespielt hat. Viele davon hat Tal kommentiert, meist für zeitgenössische Zeitschriften. Wie oben gesehen, sind Tals Analysen nicht immer korrekt und heutzutage fällt es nicht schwer, ihre Ungenauigkeiten mit Hilfe von Computerprogrammen nachzuweisen – aber Tal ging es eben vor allem um Inspiration und nicht um Präzision. Doch zum Glück wurden diese Kommentare nicht nachträglich bearbeitet und der Reiz des Talschen O-Tons blieb erhalten.

Geordnet ist das Buch nach Jahren, deren wichtigste Ereignisse Tal jeweils resümiert. Dann folgen Tabellen und Partien seiner Turniere und Wettkämpfe, das Ganze optisch schön aufbereitet und durch Fotos und Karikaturen aufgelockert. All das macht es zum Genuss, sich von Tal die magische Welt seines Schachs zeigen zu lassen.