KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

TYPISCHES EVERYMAN-PRODUKT MIT DEN BEKANNTEN STÄRKEN UND SCHWÄCHEN

Von FM Joachim Wintzer

Aagaards Queen's Indian Defence Cover

Jacob Aagaard,
Queen’s Indian Defence
Everyman Publishers, 2002
Sprache: Englisch
Paperback, 144 S.,
23,40 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

ÜBER DEN AUTOR

Der dänische IM Jacob Aagaard (Elo um 2400) gehört, wenn man dem Klappentext Glauben schenken darf, zu den „renowned openings theoretician[s]“. In der Tat hat Aagaard bereits einige Eröffnungsmonographien veröffentlicht: Easy Guide to the Panov-Botvinnik Attack (1998), Easy Guide to the Sveshnikov Sicilian, Sicilian Kalashnikov (2001), Dutch Stonewall (2001), Meeting 1d4 (2002). Nicht zu vergessen ist sein Lehrbuch Excelling at chess, in welchem er einige interessante, aber umstrittene Thesen vertrat. John Watson hat sich in einer Besprechung mit Aagaards Kritik an seinem Secrets of Modern Chess Strategy auseinandergesetzt.

DAMENINDISCH

Damenindisch (1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6) gilt als eine solide Eröffnung, die normalerweise aufs Brett kommt, wenn Weiß das freundliche schwarze Angebot zu Nimzoindisch ablehnt. In den siebziger Jahren wurde auf Großmeisterebene meist die Variante mit 4.g3 Lb7 gespielt. In den achtziger Jahren wurde dank der Bemühungen und Erfolge Kasparows das Petrosjan-System mit 4.a3 populär. Gegen 4.g3 griffen die Schwarzspieler zunehmend zu 4…La6. Im ersten Wettkampf Karpow gegen Kasparow 1984/85 wandten beide Seiten diese Spielweise an. Viele Varianten sind inzwischen ähnlich ausanalysiert wie die Hauptvarianten im Nimzoindisch, was fast immer bedeutet, dass weiße Angriffssysteme von den Schwarzspielern entschärft worden sind.

GESAMTDARSTELLUNG DER „KRITISCHEN“ VARIANTEN

Das Buch erhebt wie die anderen Eröffnungsbücher bei Everyman den Anspruch, eine Gesamtschau aller Varianten dieser Eröffnung zu bieten. Im Vorwort schreibt Aagaard, dass er den Verlag darum gebeten habe, zwei Bände schreiben zu dürfen. Der Verlag lehnte ab, weil er annahm, dass das Interesse an einem Einbänder größer sei. Auf den naheliegenden Gedanken, die Seitenzahl zu verdoppeln, kam der Verlag leider nicht. Um auf die erwünschte Seitenzahl zu kommen, löschte Aagaard zunächst alle Amateurpartien aus seiner Datenbank. Es verblieben 20000 Partien, viel zu viele, als dass alle Berücksichtigung hätten finden können. Als nächstes entschied sich Aagaard daher dafür, nur die kritischen Varianten zu berücksichtigen. Wenn Schwarz mehrere Wege zum Ausgleich hat, wird nur ein Abspiel vorgestellt, der Rest also weggelassen. Wie bei den Eröffnungsbüchern aus dem Verlag Everyman üblich, wird das Material anhand kompletter Partien präsentiert, ein Variantenindex am Ende des Buches fehlt noch immer.

GLIEDERUNG

Die im Inhaltsverzeichnis angeführte Bibliographie existiert nicht. Für die Systeme ohne g3 verwendet der Autor 75 Seiten, für die Varianten mit 4.g3 39 Seiten.

Bibliography (0 [sic] Seiten)
Preface (2 Seiten)
Introduction (7 Seiten)
White plays without g2-g3 (1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6)
Kapitel 1 Opting for Nothing: 4.Lf4 and 4.Lg5 (8 Seiten)
Kapitel 2 The Petrosian System: 4.a3 (38 Seiten)
Kapitel 3 5.Dc2 and 5.Lg5 (14 Seiten)
Kapitel 4 5.Db3 (11 Seiten)
Kapitel 5 4.e3 (6 Seiten)
Kapitel Lines with g2-g3 (1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.g3)
Kapitel 6 4.g3 Lb4+ and 4…La6 without 5.b3 (14 Seiten)
Kapitel 7 4.g3 La6: Main Line with 5.b3 (10 Seiten)
Kapitel 8 4.g3 Lb7 (15 Seiten)
Index der kompletten Partien (2 Seiten)


VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Der Verlag wirbt mit einem starken Argument für das Buch: „This is the first systematic study of the whole of this major opening for eleven years, making it an essential buy for the many players who use this opening as either Black or White.“ Da die Bibliographie weggelassen wurde, kann ich nicht nachvollziehen, auf welche Gesamtdarstellung sich der Verlag bezieht.

Eine ähnliche Darstellungsweise wie das vorliegende Buch verwandten Ribli und Kallai in ihrem 1987 bei Batsford erschienenen Winning with the Queen’s Indian. Diese Monographie konnte zwar mehr Seiten als Queen’s Indian Defence vorweisen, in realiter hat Aagaard aufgrund eines weniger verschwenderischen Satzspiegels mehr als den doppelten Umfang. Wer sich damals einen ersten Überblick über die Eröffnung verschaffen wollte, lag bei Ribli/Kallai richtig. Im selben Jahr veröffentlichte Schmaus Gellers Damenindische Verteidigung. Der Titel war irreführend, weil auf den 279 Seiten nicht nur Damenindisch, sondern auch Bogoindisch abgehandelt wurde.

Bis zu Aagaards Neuerscheinung war Gellers Werk die maßgebliche Gesamtdarstellung, wenn man von der Enzyklopädie einmal absieht. Die Marktlücke hat natürlich auch der Hauptkonkurrent von Everyman im englischsprachigen Raum, Gambit Publishers, entdeckt. Für den Mai 2003 ist als Neuerscheinung „The Queen’s Indian“ von Jouni Yrjölä und Jussi Tella angekündigt. Dieses Autorenteam hat bereits ein Buch veröffentlicht, welches von mir besprochen worden ist.

Alle kompletten Partien sind zwischen 1980 und 2002 gespielt worden. Die zuletzt berücksichtigten Partien stammen aus der ersten Jahreshälfte 2002.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Aufgrund der Vielzahl von unterschiedlichen Bauernstrukturen, die in Damenindisch entstehen kann, verzichtete Aagaard darauf, wie in seinem Stonewall-Buch einen allgemeinen Überblick über die Eröffnung anhand ausgewählter Mittelspielstellungen zu geben. Nur dem Isolani auf d5 widmet der Autor 3 Seiten. Statt dessen beginnt er mit einer Kurzübersicht über die im Theorieteil behandelten Varianten. Zum Abspiel 4.Sc3 Lb4 5.Db3 a5 heißt es beispielsweise: „5…a5 does equalise but the resulting positions seem to be a little passive for Black because he will often have to play on against the two bishops.“ Aagaard läßt seine persönlichen Präferenzen klar erkennen. Er hält gegen 4.g3 La6 für wesentlich aussichtsreicher als Lb7, da Weiß entwe-der für die Deckung des Bauern c4 eine Figur deplazieren oder sich mit 5.b3 schwächen muß. Dies führt ihn zu der Schlussfolgerung, „that I recommend that everyone dump 4..Lb7 and choose a line from below.“

Der Umfang der Kommentierung nimmt ab dem 20 Zug stark ab. Ein Extrembeispiel ist die Partie Bogdanovski – Cabrilo, Bijeljina Dvorovi 2002. Nach dem 17. Zug von Schwarz bezeichnt Aagaard die Stellung als ausgeglichen. Anschließend folgt die Notation bis zum hundertsten Zug unkommentiert, gefolgt von einem achtzeiligen Absatz, in welchem Aagaard darüber spekuliert, ob TWIC das Ergebnis richtig wiedergegeben hat.

STAND DER THEORIE

Aus dem Inhaltsverzeichnis wird bereits deutlich, dass Aagaard die ehemalige Hauptvariante 4.g3 Lb7 stiefmütterlich behandelt. Geller untersuchte das Abspiel 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.g3 Lb7 5.Lg2 Le7 6.0-0 0-0 7.Sc3 Se4 8.Dc2 Sxc3 9.Dxc3 auf 34 Seiten, Aagaard auf weniger als einer Seite.

In der Variante 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.g3 Lb7 5.Lg2 Le7 6.0-0 0-0 7.Sc3 Se4 8.Ld2 c5 9.Tc1 Lf6 10.d5 exd5 11.cxd5 Sxd2 12.Sxd2 d6 13.Sde4 konnte Weiß einige schöne Siege erringen, darunter die Partien Pinter – Beljawski, Luzern 1985 und Karpow – Salow, Linares 1993. Inzwischen hat es sich herausgestellt, dass 13…Le5 der beste Zug ist.

14.Dd2

Die Alternative zum Textzug ist 14.f4. Nach 14… Ld4+ 15.Kh1 La6 folgte in der Partie Jussupow – Z. Almasi, Bundesliga 1994 16.Tf3 Te8 17.g4 De7 18.g5 Sd7 19.e3 Lxc3 20.Sxc3 b5 21.Tg3 f5! =+. Aagaard zitiert diese Partie und ergänzt, dass das weiße Spiel sicherlich verstärkt werden könne. Leider macht er keinen Vorschlag, an welcher Stelle dies geschehen könne. Vielleicht sollte Weiß nach dem Vorbild der Partie Gelfand – Z. Almasi, Amber Rapidplay 2002 eher nach dem Vorstoß e4-e5 streben: 16.Dd2 De7 17.g4 Sd7 18.Tfe1 g6 19.g5 Lg7 20.a4 h6 21.Lf3 hxg5 22.Sxg5 Tfe8 23.e4 Df6 24.Lg4 Sf8 25.h4 Te7 26.e5 dxe5 27.d6 Tee8 28.d7 Lb7+ 29.Kh2 Tad8 30.Sd5 Dd6 31.dxe8D Txe8 32.Tcd1 f5 33.Le2 1-0

14…La6 Mit diesem Zug verhindert Schwarz, dass Weiß im 16. Zug e3 spielen kann. 15.f4 Ld4+ 16.Kh1 De7 17.Tfe1 g6 18.e3 Lg7 19.g4 h6 20.g5 hxg5 21.Sxg5

Aagaard kommentiert an dieser Stelle: „The game is rather unclear.“

21… Sd7 22.Df2 Lh6! Aagaard: „22…Sf6 23.Dh4 followed by e3-e4-e5 would be very dangerous for Black.“ Den Rest der Partie bringt er unkommentiert: 23.h4 Lxg5 24.hxg5 f6 25.gxf6 Dh7+ 26.Kg1 Sxf6 27.Dg3 Tae8 28.Lh3 Kg7 29.Tcd1 Th8 30.Lg2 Dh4 31.Dxh4 Txh4 32.a4 g5 33.fxg5 Sd7 34.Ta1 Ld3 35.Sb5 Tg4 36.Sxd6 Tf8 37.e4 Txg5 38.Te3 Se5 39.Sf5+ Kf6 40.Tg3 Tfg8 41.Txg5 Txg5 42.Se3 Lxe4 43.Tf1+ Ke7 44.Tf4 Lxg2 45.Sxg2 Sd3 46.Te4+ Kd6 47.Kf1 Sxb2 48.a5 Tf5+ 49.Kg1 Txd5 50.a6 Td1+ 51.Kf2 Ta1 52.Sf4 Ta4 53.Te6+ Kd7 0-1 Pinter – Tompa, Ungarn 1994.

Um die Variante mit Lg5 ist es in den letzten Jahren ruhig geworden:
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.Sc3 Lb4 5.Lg5 Lb7 6.e3 h6 7.Lh4 g5 8.Lg3 Se4 9.Dc2 Lxc3+ 10.bxc3 d6 11.Ld3 f5 12.d5 Sd7

Aagaard setzt voraus, dass seine Leser wissen, dass Weiß nach 12…exd5 13.cxd5 Lxd5 genügend Kompensation erhält und mit welchen Zügen er diese Kompensation erhält.

Nach 13.Sd4 Sdc5 14.dxe6 Df6 15.f3 f4 ist nach Aagaard 16.Lxe4! der einzige Zug. In der Partie Komarov – Mantovani, Reggio Emilia 1996 kam Schwarz nach 16.exf4 Sxd3+ 17.Dxd3 Sc5 18.De2 gxf4 19.Lf2 Tg8 (19…0-0-0 20.0-0-0 Tde8 21.The1 Thg8 22.Lg1 Kb8 23.Td2 Sxe6 24.Kb2 Sg7 A. Schneider- Parker, Monarch Assurance open, Isle of Man 1999) 20.g4 fxg3 21.hxg3 0-0-0 22.0-0-0 Tde8 in Vorteil. 16…Lxe4 17.fxe4 fxg3 18.hxg3 0-0-0 Aagaard: „The situation is unclear, although I feel a bit more comfortable about White’s position. The pawns might look ugly, but they control many invasion squares“

Mir scheint eher, dass Weiß positionell total verloren ist und ein „normaler“ Spielverlauf mit seiner sicheren Niederlage enden muss. Nach 19.Sc6 kommt sogar Dxe6 20.Sxd8 Txd8 in Betracht.

Ich habe dieses Beispiel gebracht, da es einer der wenigen Fälle ist, in denen Aagaard einen eigenen Verbesserungsvorschlag hat einfließen lassen.

FAZIT

Ähnlich wie bei der Monographie von Davies über die Grünfeld-Verteidigung erhält der Leser mit Queen’s Indian Defence einen allgemeinen Überblick über den Stand der Theorie. Vieles ist aus Platzgründen weggelassen worden. Bei 4.g3 Lb7 halte ich das Ausmaß der Kürzungen schon für nicht mehr vertretbar. Bei den Abspielen mit 4…La6 und beim Petrosjan-System 4.a3 ist Aagaards Darstellung hingegen recht überzeugend. Wer Damenindisch mit Schwarz spielt, wird sich das Buch zulegen wollen, da es bis zum Mai nächsten Jahres keine Alternative auf dem Markt gibt.