„ICH HABE IMMER DANACH GESTREBT,
DER BESTE ZU SEIN“

Ulrich Dirr ist leidenschaftlicher Schachspieler und Grafiker. Zusammen mit Stefan Kindermann verfasste er ein viel beachtetes Buch über den Winawer-Franzosen mit 7.Dg4 0-0. Und in der Gestaltung von Schachbüchern geht er neue Wege, um Funktionalität mit Ästhetik zu verbinden. Wie und warum er das macht, verrät er im folgenden Interview.

Ulrich Dirr

Herr Dirr, wie wird man zum Schachbuchlay-outer?
Ich würde mich ungern als Lay-outer bezeichnen. Das waren für mich immer die Leute, die es „quick and dirty“ machen. Was man gemeinhin als Lay-out-Tätigkeit bezeichnet, ist eigentlich in der Konzeption Makrotypografie und in der Praxis Satz. Auf Bücher bezogen betrifft das Gestaltung, Konzeption, Einrichtung und Aufbau eines Buches und danach die handwerklich saubere Umsetzung.
Bevor ich anfing, mit Chessgate bzw. GM-Schach, wie es früher hieß, zusammenzuarbeiten, habe ich mir überlegt, dass es schön wäre, wenn ich meine Schachleidenschaft mit meinen beruflichen – typografischen – Interessen verbinden könnte. Bei einigen „Brotarbeiten“ für Schulbuch- und wissenschaftliche Verlage konnte ich ja leider auch oft nicht so, wie ich wollte … Natürlich wusste ich von vorneherein, dass dies nicht besonders lukrativ sein würde.

Das hat Sie aber nicht abgehalten?
Nein. Ich will ja nicht mein Leben lang immer um acht Uhr im Büro sitzen und immer das Gleiche machen. Ich finde, bei der Arbeit, die man macht, muss Leidenschaft dabei sein, Herzblut. Und da Schach mich schon immer fasziniert hat, war es eine Herausforderung, die beiden Dinge miteinander zu verknüpfen.

Was macht das Schachspiel denn so faszinierend für Sie?
(Lacht). Ein wichtiger Punkt ist die Vielschichtigkeit des Spiels. Im Prinzip ist Schach ein Mikrokosmos. Man darf nicht den Fehler machen, zu sagen, Schach ist ein getreues Abbild des richtigen Lebens. Aber gewisse Vergleiche kann man schon ziehen. Wenn einen geistige Probleme oder intellektuelle Herausforderungen anziehen, dann ist Schach genau das Richtige. Das alte Bild des Schachspiels als See, in dem eine Mücke baden und ein Elefant ertrinken kann, halte ich für sehr treffend.

Und wie verlief Ihre Schachkarriere?
Von Schachkarriere kann man eigentlich nicht sprechen. Ich spiele zwar in der Bundesliga und habe dies in der Vergangenheit auch halbwegs anständig getan, aber diese Saison waren die Gegner übermächtig, und ich konnte mit meinen bescheidenen Mitteln nicht mehr gegenhalten. Aber als Amateur hatte ich natürlich immer den Wunsch, in der Bundesliga zu spielen.
Generell habe ich immer danach gestrebt, der Beste zu sein. Beim Schach klappt das halt nicht so, weil andere Dinge dazu kommen: man geht zur Schule, studiert, lernt einen Beruf, dann kommen die Forderungen des Alltags und außerdem soll es ja auch noch Leute geben, die sich binden (lacht); das kostet Zeit und nimmt den Großteil des Lebens ein. Im Normalfall ist Schach dann nicht mehr so relevant. Aber die Leidenschaft bleibt.
Meine Schachentwicklung war die eines klassischen Amateurs. Was ich immer bedauert habe, war die schlechte Jugendförderung zu meiner Zeit. Ich glaube, als Jugendlicher hätte ich mit entsprechender Förderung einiges mehr erreichen können.
Allerdings habe ich als Jugendlicher auch viele andere Sportarten betrieben. Alles Mögliche. Handball, Fußball, Eishockey – ich war Gründungsmitglied des Eishockeyclubs Lindau; dann habe ich zehn Jahre Judo gemacht und später ein wenig Taekwondo. Alles wettkampfmäßig und mit großem Engagement. Ich war ein richtig aktiver Sportler und bin dann eher per Zufall auf Schach gekommen. Ich bin Amateur und ein leidenschaftlicher Schachspieler. Die Elo-Zahlen sind mir eigentlich egal. Ich mag den Kampf.

Das ästhetische Moment im Schach leben Sie dann im Buchmachen aus?
Das Problem bei der Ästhetik im Schach ist, dass der Gegner das Schöne meist nicht zulässt – er macht einem einen Strich durch die Rechnung. Aber wenn es geht, habe ich nichts dagegen, etwas zu opfern – wenn man Ästhetik hier auf Opferspiel bezieht. Siehe meine Kurzpartie gegen Thomas Pähtz in Wörishofen 1996. Mit Schwarz, 17 Züge, Damenopfer und Ende. Weiß hat es mir sehr leicht gemacht. Das war schon aufregend.
Das Motiv habe ich bereits etliche Züge früher gesehen, aber als es dann aufs Brett kam, habe ich die Variante fünf Mal durchgerechnet – und schon ein wenig gezittert, als ich den Zug ausgeführt habe. Es ist ein tolles Gefühl, wenn man als Amateur seinen ersten Großmeister schlägt. Inzwischen habe ich den einen oder anderen GM-Skalp erbeutet (z.B. Nikolac, Pähtz, Kindermann usw.).

Mit Stefan Kindermann haben Sie später dann das Buch über den Winawer-Franzosen verfasst. Bei Autorenduos fragt man sich natürlich immer, wer für welche Teile verantwortlich war? Wie sah die Arbeitsteilung zwischen Ihnen aus?
Natürlich ist Stefan der viel bessere Spieler – die Hauptanalysearbeit lag auf seinen Schultern. Aber wir haben viel gemeinsam analysiert und Varianten überprüft, die mir nicht ganz geheuer vorkamen. Und ich habe oft auf Varianten hingewiesen, die meiner Meinung ins Buch gehörten.
Die ganze Konzeption lag bei mir. Wobei wir ziemlich viel darüber gesprochen haben, wie wir das Ganze aufziehen wollen. Wir hatten vorher schon oft über unsere Vorstellungen von einem idealen Eröffnungsbuch gesprochen und wollten sie jetzt in die Tat umsetzen. Hundertprozentig ist uns das dann leider nicht gelungen, weil wir dem Ökonomischen noch immer verhaftet waren – sprich: Es wäre einfach zu teuer geworden. (lacht).

Was fehlt denn noch zu den hundert Prozent?
Ich hätte das Buch natürlich gerne gebunden gesehen. Und eigentlich schwebte mir als Variantenindex ein ausklappbares Blatt vor. Dann kann man blättern und arbeiten und hat doch den Index stets vor sich.

Schaut man sich den Schachbuchmarkt an, scheint vielen Leuten ein billig gemachtes Eröffnungsbuch, das den schnellen Punkt verspricht, lieber zu sein als ein schön gestaltetes Buch mit anspruchsvollem Inhalt. Lohnt sich da der Aufwand, den Sie auf die Gestaltung Ihrer Bücher verwenden?
Ich denke schon. Dvoreckijs Endspieluniversität ist z.B. so strukturiert, dass man sich auf jeden Fall überlegen musste, wie man das Material präsentiert. Ich weiß nicht, wie ein anderer dies gemacht hätte, aber Raum für Katastrophen war ausreichend vorhanden. Auch der Aufbau des Winawer-Buches ist, glaube ich, dem Buch sehr zuträglich. Außerdem sind die Bücher relativ preiswert.
Und beim Winawer-Buch war der Aufwand besonders hoch: Ich musste erst eigene Schachzeichensätze entwerfen und die Figurinen an die Schriften anpassen; außerdem war es gar nicht so einfach, das Konzept der Tabellen und den unterschiedlichen Querverweisen einzurichten. Aber wir wollten einfach einmal zeigen, was möglich ist.

Gab es denn Nachahmer, die sich an Ihrer neuen Art, Eröffnungsbücher zu gestalten, orientiert haben?
Nein, ich habe noch keine gesehen. Erwähnen möchte ich jedoch die neue Fischer-Ausgabe der 60 Denkwürdigen Partien bei Rattmann, die sich wohltuend von anderen Publikationen abhebt und vom Lay-out des Winawer-Buchs inspiriert zu sein scheint. Aber ich weiß, dass das Winawer-Buch vielen gefallen hat. (lacht). Die Kritiken waren sehr positiv. Mein Lieblingszitat von René Olthoff in New in Chess: „Französisch Winawer by Kindermann and Dirr does not stand out from other opening publications, it towers miles above them […]“.
Das Buch soll Spieler unterschiedlichster Spielstärke ansprechen. Für das Expertenwissen der Profis hätte der enzyklopädische Teil völlig gereicht – die Profis schauen sich die Varianten und Bewertungen an und wählen eine Variante aus. Aber die anderen Teile sind für diejenigen, die erst anfangen, sich mit Eröffnungen zu beschäftigen, sehr wichtig. Und wer sich mit diesen Abschnitten beschäftigt hat, ist dadurch bereits besser geworden. Solche Spieler probieren die Eröffnung in der Praxis aus und schauen anschließend garantiert nicht mehr in den Musterpartien nach, sondern im enzyklopädischen Teil. Hat man trotzdem etwas noch nicht begriffen, kann man immer wieder ganz schnell zum erklärenden Teil springen. Man hat längere Zeit etwas von dem Buch. Bei anderen Büchern, die nur einen Aspekt abdecken, ist das nicht so. Die Wechselwirkungen fallen weg.
Generell achte ich darauf, dass das Lay-out funktional bleibt und die Gestaltung nicht nur Spielerei ist, sondern einen Sinn erfüllt. Für die Chessgate-Bücher verwende ich genau zwei Schriften, die aufeinander abgestimmt sind und vom Design sehr gut miteinander harmonieren. Natürlich verwende ich fette oder kursive Auszeichnungen – aber die Schrift bleibt gleich; bei Namen folge ich der klassischen Tradition und benutze Kapitälchen. Und die Ziffern sind so genannte Mediäval- oder Minuskelziffern und haben eine lange Tradition – seit sich die arabischen Ziffern in Europa durchgesetzt haben, etwa seit Gutenberg, werden Ziffern so gesetzt. Dadurch wird das Auge optimal geleitet und Verwechslungen vorgebeugt. Lesbarkeit ist eines der höchsten Ziele guter Typografie.
Und ich achte darauf, dass die Bücher ein einheitliches Erscheinungsbild haben. Die Leute sollen erkennen: „Ah, das ist Chessgate.“ Auch mit den Umschlagsfarben hat es diese Bewandtnis: Die Eröffnungsbücher werden schwarz, die Endspielbücher werden weiß und eventuelle Mittelspielbücher, Biografien o.Ä. bekommen andere Farben.

Was halten Sie für die größten Lay-out-Sünden, die heutzutage begangen werden?
Es gibt so viele. Was mich ärgert, ist schlechtes Papier. Eine der größten Sünden ist auch das Verwenden schlechten Klebstoffs. Man blättert, und das Buch bricht auseinander. Was mich ebenfalls stört, ist, wenn man das Buch nicht aufschlagen kann und es immer wieder zuklappt. Das ist ein Zeichen für billige Produktion. Ein normales Buch ist dafür gedacht, dass man es auf den Tisch legen und dann darin lesen kann – Taschenbücher, die man z. B. im Zug lesen kann, sind natürlich etwas anderes. Aber wenn ich ein Buch nicht auf den Tisch legen kann, ohne dass es immer zuklappt, ist eine der Grundfunktionen des Buches verletzt. Man muss darüber streichen und der Rücken bricht.
Aber die größte Lay-out-Sünde ist die, dass sich die Leute vorher nicht richtig Gedanken machen, wie sie das Buch für den Zweck, den es erfüllen soll, einrichten müssen.

Zum Abschluss eine allgemeine Frage: Was ist die schönste Partie, die sie kennen, und was ist die schönste Partie, die sie selbst gespielt haben?
(lacht). Da muss ich so antworten: Es gibt viele wirklich sehr schöne Partien – Perlen. Es gibt eigentlich von jedem Spieler schöne Partien. Und was mich betrifft, gibt es leider gar keine – und deswegen kann es auch keine schönste geben.

Das Interview führte Johannes Fischer