AUS DEM VOLLEN SCHÖPFEND

Von Harry Schaack

Mr. Kasparov. How I became World Champion Cover

Mr. Kasparov
How I became World Champion
Vol 1: 1973-1985
DVD, englisch,
ChessBase 2012,
39,90 Euro

(Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Wenn der Mann, der vielen als bester Spieler der Geschichte gilt, über Schach redet, ist dies stets ein Genuss. Mehr noch, wenn er kritisch seine eigenen Partien unter die Lupe nimmt und über seine Karriere spricht. Diesen Leckerbissen kann sich nun jeder auf der ChessBase-DVD Mr. Kasparov. How I became World Champion. Vol 1.: 1973-1985 gönnen, wo der 13. Weltmeister seinen Aufstieg in die Weltspitze Revue passieren lässt. In 16 Kapiteln und fast sechs Stunden lang stellt er seine wichtigsten Partien vor und erinnert sich an die kritischen Momente und Wendepunkte seiner einzigartigen Schachlaufbahn bis zu seinem ersten WM-Kampf gegen Karpow.

Es ist ein Vergnügen, Kasparow zuzuschauen. Wenn er über seine Partien spricht, merkt man ihm die damalige Gefühlslage an. Das ist schon in seinem Buch Garry Kasparov on Garry Kasparov so, an dem sich die DVD orientiert, wirkt aber im Video noch authentischer. Seine Körpersprache strahlt Zufriedenheit aus, wenn er gelungene Partien aus seiner Jugend zeigt. Teilweise schmunzelt er wohlwollend über seinen damaligen Optimismus und zeigt, wie der Gegner hätte mehr Widerstand leisten können. Oder er ist immer noch fassungslos darüber, wie er einst seine totale Gewinnstellung gegen Spasski verdorben hat.

Seine lebhafte Erinnerung addiert noch etwas zu seinen Partien hinzu. Wenn er z. B. seine Begegnung gegen Lputjan beschreibt und erzählt, dass sein Gegner nach einem bestimmten Zug mit Verve aufstand, um seine Zuversicht zu demonstrieren. Doch bevor Lputjan die Bewegung vollenden konnte, konterte Kasparow mit einer brillanten Antwort, die ihn in sich zusammensacken ließ.

Alle ausgewählten Partien haben etwas Besonderes und stets stellt Kasparow Querverbindungen her, zeigt Parallelen, weist darauf hin, was er zuvor gelernt hat und wie er es später anderswo erfolgreich anwendete. So ist sein Sieg gegen Petrosjan in nur 21 Zügen darauf zurückzuführen, dass ihm sein Gegner in früheren Aufeinandertreffen gelehrt hatte, dass Geduld manchmal erfolgreicher ist als Aktionismus.

Kasparow ist stolz auf seine Partien. Und gerade die frühen Beispiele zeigen beeindruckend das Potenzial des späteren Dominators. Gegen Nikolajewski spielt er 1978 eine Kombination von fünfzehn Vollzügen, die ihm das Remis sichert. Noch heute freut er sich über seine damals schon atemberaubenden Rechenfähigkeiten. Und sein unerwartetes Springeropfer gegen Jussupow oder sein Sieg gegen Tukmakow, der ihm seine erste Sowjetische Meisterschaft bringt, zaubern ihm ein zufriedenes Lächeln aufs Gesicht. 1980 geht seine Partie gegen Pribyl um die Welt, gegen den er bei der Europäischen Teammeisterschaft ein positionelles Figurenopfer bringt. Seine Mannschaftskollegen wollen ihm zeigen, dass das Opfer inkorrekt ist. Erst Jahre später kann er mit Computerhilfe die Richtigkeit seines Zuges beweisen. An diesen Beispielen, in denen sich, wie Kasparow sagt, Material in Energie verwandelt, wird deutlich, welch unglaubliches Gefühl für Dynamik und Initiative der Mann aus Baku besitzt.

Erstaunlich ist auch, wie weit schon in jungen Jahren die Eröffnungsvorbereitung Kasparows reichte, die ihn später fast unschlagbar machte. Er weist darauf hin, dass es damals mühevoll war, ein Repertoire aufzubauen oder überhaupt Partien seiner Gegner zu bekommen – eine Aufgabe, die Jugendliche heute mit dem Computer in einem Bruchteil der Zeit erledigen.

Kasparow zeigt stets, wie starke Schachprogramme alte Analysen und Einschätzungen verändert haben. Über einige Züge, die der Computer findet, ist selbst Kasparow verwundert, so z. B über ein Springeropfer in einer lange Zeit als kritisch erachteten Stellung im Königsinder; oder auch über eine verborgene Rettung bei seinem sensationellen Sieg gegen Kortschnoi bei der Olympiade 1982, die ihm sein Rechner in den späten Neunzigern präsentierte.

Kasparow hat 2005 seine Karriere beendet. Seither spielt er gelegentlich Schaukämpfe und Simultans, doch seine größte Aufmerksamkeit gehört heute der Politik, wo er sich als einer der führenden Putin-Kritiker etabliert hat. Obwohl er nicht mehr spielt, hat er die aktuelle Schachszene nicht nur durch seine Zusammenarbeit mit Carlsen und Nakamura beeinflusst. Durch eine vorher nie gesehene Menge an Veröffentlichungen schrieb er auch nachhaltig und im eigentlichen Sinne Schachgeschichte. Seit seinem Rücktritt sind alleine zehn Bände zusammengekommen und dazu noch einige DVDs. Kasparow hat eben schon immer Maßstäbe gesetzt. Neben seinem schachlichen ist mittlerweile auch sein publizistisches Werk einzigartig.