VOM KRANKENBETT ZUM WM-KANDIDATEN

Was Wolfgang Unzicker für die Bundesrepublik ist Wolfgang Uhlmann für die DDR gewesen: der unumstrittene Führungsspieler. Seit 1960 war er nicht nur der erste, sondern lange Zeit auch der einzige Staatsprofi seines Landes. Als Autodidakt schaffte er es in die Weltspitze, Anfang der Siebziger in die Top-Ten und 1972 qualifizierte er sich für die Kandidatenmatches. Aber da hatten die Sportfunktionäre der DDR insgeheim schon längst beschlossen, dass sie das Leistungsschach nicht länger fördern werden. Am 29. März ist einer der größten deutschen Schachspieler achtzig geworden.

Von Harry Schaack

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Foto: Harry Schaack

ERRATA: Auf den Seiten 14 und 15 ist es in der Uhlmann-Biografie in unserer Printausgabe zu falschen Alterszuordnungen gekommen. Die Fehler haben wir in der Internetversion behoben. Wir bitten diesen Fauxpas zu entschuldigen.

Sein Kopf ist tief in seine Hände vergraben. Die Stellung scheint einfach, er steht total auf Gewinn. Vielleicht denkt er darüber nach, warum sein Gegner Bent Larsen nicht schon längst aufgegeben hat. In einem Meraner hat Wolfgang Uhlmann seinen Kontrahenten völlig überspielt. Nach einem Bauernopfer hatte er eine überwältigende Initiative erhalten, weshalb sich der Däne im 28. Zug dazu entschied, einen ganzen Turm zu opfern. Ein hoffnungsloses Unterfangen auf diesem Niveau, mag man denken. Immerhin handelt es sich um ein Kandidatenmatch. Aber Larsen ist nicht der Typ, der schnell aufgibt. Er sucht lieber nach taktischen Ressourcen. Uhlmann weiß das, und überlegt vielleicht sorgfältiger als gewöhnlich. Plötzlich „erwacht“ er aus seiner minutenlangen Grübelei. Er ist unverhofft in Zeitnot geraten und muss noch zehn Züge machen. Er kann zwischen einem halben Dutzend Fortsetzungen wählen, die die sofortige Entscheidung bringen. Doch jetzt zieht er hektisch – und übersieht den letzten Trick seines Gegners, der ihn Matt setzt.

Das Match war der Höhepunkt und diese Partie gleichzeitig die bitterste Niederlage in Wolfgang Uhlmanns eindrucksvoller Karriere.

DIE FRÜHEN JAHRE

Von seinem Vater hat Wolfgang Uhlmann gelernt, sich durchzuschlagen und nie aufzugeben. Denn obwohl der Bäckermeister im Ersten Weltkrieg ein Bein verliert, lässt er sich nicht unterkriegen, arbeitet hart und führt in Dresden seine eigene große Bäckerei und Konditorei mit viel Fleiß zu einem erfolgreichen Unternehmen. Die Eltern sind stark im Geschäft eingebunden und können sich wenig um Wolfgang kümmern. Trotzdem bekommt er eine liebevolle Erziehung, die auch Disziplin und Anstand vermittelt. Viele Charaktereigenschaften, die er später in seiner Schachlaufbahn gut gebrauchen kann, legen ihm seine Eltern schon in die Wiege: Ausdauer, Fairness, Selbstkritik. Und weil er viel alleine ist, lernt er früh, sich selbstständig zu beschäftigen. Auch das ein Fundament für seine kommende Schachkarriere.

Uhlmanns Vater ist ein einfacher Klubspieler, der zu Hause gerne mit Wolfgangs Onkel eine Partie spielt. Weil der Junge immer interessiert zuschaut und nachfragt, erlernt er im Alter von acht Jahren die schachlichen Grundbegriffe mehr oder weniger spielerisch. Nur wenig später – es ist 1943 und Deutschland befindet sich mitten im Krieg – erkrankt der 8-Jährige an TBC und muss für fast eineinhalb Jahre in ein Dresdner Sanatorium. Helfen kann man ihm kaum, Medikamente gibt es nicht. Die Heilungskur besteht aus einer speziellen Diät, Ruhe und vor allem Liegen. Es wird nicht der einzige gesundheitliche Schlag bleiben. Krankheiten werden Uhlmann sein Leben lang begleiten.

Für ein Kind muss es schrecklich sein, so lange im Sanatorium zu liegen. Aber für Uhlmann ist es letztlich ein Glück, auch wenn er es noch nicht ahnen kann. Diese Zeit ist nicht weniger als die Initialzündung für seine künftige schachliche Entwicklung.

Im Krankenhaus gibt es nicht viel zu tun. Vor allem gilt es, die Langeweile zu bekämpfen. Sein Vater schenkt ihm zum Zeitvertreib zwei Schachbücher von Aljechin, die heute längst Klassiker geworden sind: Auf dem Wege zur Weltmeisterschaft und Meine besten Partien. Damals gibt es kaum Schachliteratur. Für Uhlmann werden diese Bücher bald zu seiner liebsten Lektüre. Der Schachvirus hat ihn angesteckt, bald kennt er alle Partien auswendig. Auf einem kleinen Schachbrett spielt er sie auf seinem Krankenbett nach. Wie der vierte Weltmeister kleinste Nuancen ausnutzt, wie er sie positionell vorbereitet und wie er die Vorteile dann taktisch realisiert – das fasziniert den jungen Uhlmann und wird nicht ohne Folgen für seinen eigenen künftigen Stil bleiben. Jetzt zahlt es sich aus, dass er sich selbst zu beschäftigen weiß. Er bringt sich den Stoff autodidaktisch und vor allem theoretisch bei. Spielpartner gibt es bis auf wenige Partien mit seinem Vater und Onkel nicht.

Wolfgang Uhlmann 2005
Foto: Harry Schaack

Kaum aus dem Hospital entlassen, erlebt Uhlmann kurz vor Kriegsende vom 13. bis 15. Februar 1945 die Zerstörung Dresdens. In mehreren Angriffswellen wirft die amerikanische und britische Air Force flächendeckend Bomben auf die Innenstadt, die im anschließenden Feuersturm fast vollkommen zerstört wird. Geschätzte 25.000 Menschen kommen dabei ums Leben. Uhlmann steht heute noch vor Augen, wie die Stadt plötzlich mitten in der Nacht durch die in der ersten Welle abgeworfenen Leuchtbomben hell erstrahlte, bevor dann die Brandbomben ihr Werk verrichteten. Doch im Gegensatz zu vielen anderen hat er Glück, denn seine Eltern wohnen an der Peripherie der Elbstadt und ihr Haus bleibt unversehrt. Die Familie sucht Schutz im Keller, „aber wir wären fast an dem Staub erstickt“, erinnert sich Uhlmann. Nach dem Angriff ist die Stadt übersät mit verbrannten Leichen. Tote liegen auf der Straße, in den Trümmern der Häuser oder schwimmen in der Elbe. Ein traumatisches Erlebnis für den 10-Jährigen, vor allem der unerträgliche Geruch wird ihm unvergesslich bleiben. Und wenn eine Sirene heult, bekommt er noch heute eine Gänsehaut. Doch obwohl die Stadt vollkommen zerstört und ein großer Teil davon nach dem Krieg eine gähnend leere Fläche ist, blieb Uhlmann seiner Heimat Dresden immer treu.

In der Zeit seines Krankenhausaufenthaltes kann Uhlmann weder die Schule be­suchen, noch erhält er privaten Unterricht. Ein großer Nachteil beim künftigen Erlernen des Schulstoffes, den er nicht mehr aufholen kann. Deshalb bleibt ihm die Oberschule verwehrt. Doch das Schach wird ihm zum Vehikel, die verlorene Zeit der Bildung zu kompensieren.

Den Beruf seines Vaters, Bäcker, darf er wegen der Staubentwicklung, die seine durch die TBC-Erkrankung geschwächten Lungen zerstören würden, nicht ausüben. Durch die Vermittlung von Freunden seines Vaters kann er 1949 eine Buchdruckerlehre absolvieren, macht nach zweieinhalb Jahren seine Gesellenprüfung, übt den Beruf aber nie aus.

Durch die Zeit im Spital ist Uhlmanns theoretisches Wissen mittlerweile so gewaltig, dass er es bei seiner ersten Turnier­teilnahme auch ohne vorherige Praxis mühelos umsetzen kann. Als er 1945 an der Dresdner Jugendmeisterschaft teilnimmt, gibt es schon niemanden mehr, der ihm das Wasser reichen kann. Er gewinnt alle Partien und holt mit zehn Jahren seinen ersten Titel.

Bald gibt es in ganz Dresden keinen gleichwertigen Gegner mehr für ihn – mit einer Ausnahme. Nur wenige Kilometer von der Elbmetropole entfernt lebt in Radebeul der sieben Jahre ältere Lothar Schmid, der damals schachlich schon weit fortgeschritten war. Als der ein Simultan gibt, kann ihn der junge Uhlmann bezwingen. Auf das Talent aufmerksam geworden, kümmert sich Schmid fortan um ihn. Bis zu seinem Umzug nach Bamberg 1948 wird er für Uhlmann zu einer Art Schachmentor.

1948 zählt Uhlmann bereits zu den besten Nachwuchsspielern des Landes. Er gewinnt auf Anhieb alles, von der Dresdner bis zur DDR-Jugendmeisterschaft und 1951 selbst die Gesamtdeutsche Jugendmeisterschaft. Unter seinen Gegnern sind Spieler, die später in West- und Ost-Deutschland führend sein werden: Darga, Malich, Fuchs, Budrich …

1951 beginnt Uhlmann eine weitere Ausbildung zum Industriekaufmann. Die Bau Union Dresden wird für ihn zum Sponsor, weil auch der Präsident des Dresdner Schachklubs dort arbeitet. Uhlmann bekommt das Gehalt eines Arbeiters, aber die Firma stellt ihn für Turniere frei. Und das wäre beim Schichtplan eines Buchdruckers unmöglich gewesen.

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
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