SCHACHSPIELER, SONDERLING, GENIE

Kein anderer Schachspieler hat die Öffentlichkeit so fasziniert. Noch heute kennen viele Leute seinen Namen, die das Spiel selbst nicht beherrschen. Als 13-Jähriger wurde er zum Wunderkind und zur öffentlichen Person. Damit bot er Projektionsfläche für Wünsche, Hoffnungen und Spekulationen im Kalten Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Mit dem Verschwinden auf dem Höhepunkt seines Ruhms verwandelte er sich in eine Legende. Lesen Sie im Folgenden eine Betrachtung über dne Mythos Fischer.

Von Johannes Fischer

Bobby Fischer Büste

Für seinen zweiten Anlauf auf den WM-Titel suchte Fischer Trost bei den Pfadfindern. Nach seinem Scheitern beim Kandidatenturnier in Curacao 1962 hatte sich Fischer vom internationalen Schach zurückgezogen und einen WM-Zyklus verstreichen lassen. Jetzt, Mitte der 60er, war er bereit für einen zweiten Versuch. Etwa zeitgleich begann er regelmäßig Artikel für die amerikanische Pfadfinderzeitschrift Boy’s Life, zu schreiben. Er analysierte Partien und sprach über seine Turniere.

Nicht umsonst nennt ihn alle Welt Bobby und manchmal scheint er nie erwachsen geworden zu sein. Allerdings wirkt die offene, direkte Art seiner Kommentare sehr anziehend. Wenn Fischer analysiert, tritt seine Person in den Hintergrund. Anders als vielen seiner Großmeister- und Weltmeisterkollegen geht es ihm nicht um eine möglichst vorteilhafte Präsentation der eigenen Fähigkeiten, sondern um die Wahrheit im Schach. Auch seine Partien strahlen den Wunsch nach Klarheit aus. Leute, die mit ihm analysiert haben, berichten immer wieder, wie Fischer Unklarheiten verabscheut und alles ganz genau wissen will. Seine besten Leistungen sind Schach in Vollendung. Fehlerfrei, schnörkellos und voll aggressiver Eleganz.

Aber berühmt wurde Fischer durch seine Launen. Auch hier wirkt er wie ein Kind. Allerdings ein verzogenes. Fischer scheint das Wohlergehen, die Gefühle und die Bemühungen anderer Menschen um ihn herum völlig gleichgültig zu sein. Immer und überall versucht er, seinen Willen durchzusetzen. Falls dies nicht klappt, schreit er, und wenn das nicht hilft, zieht er sich zurück und schmollt. Verlieren kann er nicht. Durch Fischers gesamte Laufbahn zieht sich die Angst zu unterliegen, nicht der Beste zu sein. Bereits als Kind musste er vor seinem ersten größeren Turnier von seinem damaligen Betreuer Carmine Nigro zum Spielen überredet werden. 1961 brach er einen Wettkampf gegen Reshevsky beim Stande von 5,5:5,5 ab und nach seinem ersten großen Misserfolg in Curacao nahm er fünf Jahre an keiner WM-Qualifikation teil. Folgerichtig zog er sich schließlich nach dem Sieg gegen Spasski auf dem Gipfel seines Erfolgs endgültig vom Spiel zurück. Auch Fischers Launen vor dem Kampf gegen Spasski lassen sich so interpretieren: die Angst, gegen einen Gegner anzutreten, gegen den er noch nie gewonnen hatte. Die kampflos aufgegebene zweite Partie hätte jederzeit Grund genug geboten, um den Wettkampf abzubrechen. Vielleicht war das Spasskis großes Problem: eigentlich konnte das Match nur regulär zu Ende geführt werden, wenn Fischer gewann.

Spätestens seit der berühmten Partie gegen Donald Byrne, die er als 13-jähriger gespielt hatte, war Fischer Wunderkind und öffentliche Person. Journalisten, Schachspieler, Kolumnisten ließen sich öffentlich über Fischers Kindheit, sein Sexualleben, seine Beziehungen zu Frauen und zu seiner Mutter aus. Sein Verhalten veranlasste manchen Psychoanalytiker zu Ferndiagnosen, in denen von Vatermord und Kastrationsangst geraunt wurde. Aber ganz egal, was Fischer tat: ob er bei Turnieren unverschämt viel Geld verlangte, ob ihm die Beleuchtung zu hell oder zu dunkel und die Zuschauer zu laut waren oder nicht: jede Laune konnte auch als das Bemühen eines Genies gesehen werden, seine Kunst vollendet auszuüben. Fischers einsame, zurückgezogene Existenz, sein asketisches, ganz dem Schach gewidmetes Leben, machte seine Person zu einer wunderbaren Projektionsfläche. Er war der Einzelgänger, der gegen die sowjetische Schachmaschine antrat; ein Genie, das sich ganz einer Sache verschreibt und sich dadurch vom Alltag anderer Menschen löst. Jemand, der durch die völlige Hingabe der eigenen Person an das Spiel dem Schach neue Dimensionen eröffnet hatte.

Fischer machte den Wettkampf 1972 in Reykjavik zu einem Spektakel und zu einem Medienereignis. Er brachte dem Schach weltweite Aufmerksamkeit, hohe Preisgelder und viele Anhänger. Und er verkörperte eine attraktive Allmachtsphantasie: durch die ausschließliche Konzentration auf eine Sache, ein Spiel, eine Sportart, gelang es ihm nicht nur, alle anderen zu besiegen, sondern am Ende auch der ganzen Welt seinen Willen aufzuzwingen.

Und auch wenn Fischers Rückzug nach 72 Ausdruck der Angst war, sein fragiles, durch den Erfolg im Schach gestütztes, seelisches Gleichgewicht aufs Spiel zu setzen, festigte er Fischers Mythos. Seine schachlichen Fähigkeiten, die er nicht mehr unter Beweis stellte, nahmen in der Phantasie der Leute ungeheuerliche Ausmaße an. Karpow und später Kasparow schienen nur Weltmeister von Fischers Gnaden zu sein. Noch 1984/85 beim Endlos-Wettkampf zwischen Karpow und Kasparow waren Stimmen zu hören, dass sich Bobby nur ans Brett setzen müsste, um den beiden zu zeigen, wer tatsächlich der beste Schachspieler der Welt ist.

1992 zeigte sich Fischer irrational wie zu seinen besten Zeiten. Nach 20 Jahren Abwesenheit vom Turnierschach erklärte er sich überraschend zu einem Wettkampf gegen Spasski bereit. Konnte man das Match in Reykjavik mit Phantasie als Tragödie bezeichnen, so war der Rückkampf definitiv eine Farce. Entschlossen demontierte Fischer seinen Mythos. Auch beim besten Willen war er kein jugendlicher Held mehr, der gegen das Reich des Bösen kämpfte. Im Gegenteil: der Kampf fand zur Zeit des Bürgerkriegs in Jugoslawien statt und wurde von einem dubiosen serbischen Bankier finanziert. Außerdem war Fischer nicht nur 20 Jahre älter, sondern wog auch mindestens 20 Kilo mehr. Zugenommen hatten auch seine Wahnvorstellungen: er witterte überall Verschwörung und Verrat und gab in regelmäßigen Abständen antisemitische Hasstiraden von sich. Pausenlos wiederholte er seine Anschuldigungen Kasparow, Karpow und sogar Kortschnoi hätten alle Weltmeisterschaftskämpfe abgesprochen. Waren ähnliche Vorwürfe gegen “die Russen” beim Kandidatenturnier 1962 zwar überzogen, aber im Kern doch wohl richtig, wirkten sie jetzt nur noch lächerlich und paranoid.

Nur sein Schach war schwächer geworden. Er machte relativ viele einfache Fehler, die ihm früher kaum unterlaufen waren. Seinem Spiel fehlte die Sicherheit und die Brillanz von einst. Ohnehin war mit Spasski ein pflegeleichter Gegner gewählt worden. Von den finanziellen Anreizen einmal abgesehen, war sein Hauptinteresse nach eigener Aussage weniger, den Wettkampf zu gewinnen als Bobby zurück in die Schachwelt zu holen. Eine Niederlage Fischers hätte diesem hehren Ziel vermutlich nicht sehr geholfen. Wie 1972 schien der Wettkampf nur zu funktionieren, wenn der Sieger bereits feststand. Und so geschah es auch: Fischer gewann mit 10:5 bei fünfzehn Remis.

Danach verschwand Fischer wieder in der Versenkung und taucht nur gelegentlich auf, um per Radio-Interview seine Wahnvorstellungen über jüdische Verschwörungen und Absprachen der Russen einer immer weniger interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Es bleibt die Frage, ob Fischer dem Schach mehr genützt oder mehr geschadet hat. Seine Verdienste sind unbenommen groß: neben dem rein schachlichen Erbe seiner Partien, seinen Kommentaren, seinem Klassiker Meine 60 Denkwürdigen Partien hat er zahllose Menschen für das Schach begeistert. Er war derjenige, der Schach in die Medien brachte und letztendlich verdanken Karpow, Kasparow und viele andere Profis Fischer ihr Geld.

Andererseits festigte er durch sein Auftreten und sein Benehmen das Image des Schachs als Spiel für exzentrische Sonderlinge, bei denen Genie und Wahnsinn nahe beieinander liegen. Aber schließlich faszinieren Fischers Partien und der Gedanke, dass er alles in seinem Leben geopfert hat, um so spielen zu können, noch heute. Wenn auch die guten Taten schon lange zurück liegen.