HEIDENSPAß UND HÖLLENANGST

Zufall gibt’s nicht – kein Zweifel. Seltsam nur, dass unsere Erfahrung am Schachbrett und im Alltag dem so deutlich widerspricht. Der Kampf gegen den Zufall hat seine eigene Geschichte, er trägt verdeckt religiöse Züge.

Von Ernst Strouhal

Francisco de Goya Caprichos
Francisco Goya, Der Schlaf der Vernunft gebiert Monster.
Serie von Radierungen mit dem Titel „Los Caprichos“, Nummer 43,
(Original leicht verändert)

I

Gesetzt den Fall der liebe Gott langweilt sich. Die Engel wären besorgt und einer (vielleicht nicht der klügste unter ihnen) käme auf die Idee, ihm ein Schachspiel zu bringen, um ihm die Langeweile zu vertreiben. Er könnte mit dem Erzengel Michael eine Partie spielen, dann mit Einstein oder, weil es mehr Spaß macht, mit dem Teufel um ein Seelchen. In alle Ewigkeit. Der besorgte Engel irrt sich: Für Gott macht Schach wenig Sinn. Er würde kurz aufs Brett blicken und dann vielleicht sagen: „Matt in 267 Zügen.“ Mit Schwarz würde er nach 1.d4 sagen: „Ich gebe auf“, um danach wieder gelangweilt auf seine Schöpfung zu blicken.

Spieltheoretisch betrachtet ist Schach ein endliches Nullsummenspiel mit vollständiger Information, man kann die gesamte Schachtheorie unter der Perspektive betrachten, eine Antwort auf die Frage zu geben, was Gott zu Beginn der Partie sagen würde und warum. Die Antwort mag dauern, aber dennoch bleibt sie durch Vernunft bearbeitbar, indem der Raum und die Bewegungen innerhalb der Spielwelt endlich und deterministisch sind. In ihr herrschen statt Zufall oder Willkür exakte Regeln und Gesetze. Kein Zweifel: Es gibt den besten Zug, das Spiel ist prinzipiell lösbar, selbst mit den bescheidenen Mitteln menschlicher Erkenntnis. Unvernünftig (und in diesem Sinn gotteslästerlich) wäre es, das Gegenteil anzunehmen, denn was immer die Schöpfung ist, zufällig darf sie für den Christ nicht sein.

Alle modernen monotheistischen Religionen sind eine einzige Kriegserklärung gegen den Zufall, natürlich um zu herrschen, indem sie die Regeln des Spiels erklären, lindern sie die Angst der Menschen. Eine Höllenangst haben sie vor allem vor dem Zufall, das Akzidentielle ist das Böse schlechthin. Judentum, Islam und Christentum begegnen deshalb den Glücksspielen, deren Motiv ja das schicksalhafte Wirken des Zufalls ist, mit spitzen Fingern. In Boschs Triptychon Das Tausendjährige Reich ist für die Spieler ein eigenes Höllenabteil reserviert, nur die Schachspieler fehlen, und das aus gutem Grund: Als Spiel der Vernunft ist es von den meisten Spielverboten ausgenommen.

Auch für die Wissenschaft existiert der Zufall nicht. Die Welt ist rechenbar, und was an ihr nicht rechenbar ist, ist bloß noch nicht rechenbar. Der Zufall ist eine noch ungeklärte Beziehung zwischen Ursachen und Wirkungen. Über sie, sagt uns die Wissenschaft seit Newton und Galilei, muss so lange diskutiert werden, bis sich die Zufälligkeit eines Ereignisses und ihre Regellosigkeit als scheinbare entpuppt.

Wie die Religionen der Welt begegnet die Aufklärung der Tätigkeit des Spiels im Grunde skeptisch bis ablehnend: Es lenkt ab, als Zeitvertreib im Wortsinn ist es kein auf Fortschritt und Zukunft gerichtetes Handeln. Eine Ausnahme bildet auch hier das Schachspiel: Indem die menschliche Vernunft und nicht das Glück Motor der Bewegung der Spielfiguren ist, nimmt es eine besondere, hoch bewertete Stellung in der Text- und Bildgeschichte der Aufklärung ein. Als Schachspiel gedacht ist diese Welt objektiv vernünftig, indem ihre Strukturen der Vernunft zugänglich sind. Das Schachspiel ist daher geradezu Sinnbild einer durch Vernunft spielbaren Welt, das ludische Äquivalent zum „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, den Kant 1784 vom stillen Königsberg aus der Menschheit eröffnete. Es gibt eine einzige Lichtquelle, der wir uns bedienen können, um das Dunkel des Schachlabyrinths zu erhellen, und das ist der Verstand.

Einen Höhe- und Kipppunkt erreichte der Kampf gegen den Zufall im Schach zur Mitte des 20. Jahrhunderts. In seiner Adnote zum Entscheidungsproblem David Hilberts hat Alan Mathison Turing 1937 ein provokantes und weit reichendes Gedankenexperiment formuliert: Jedes Denken, das klaren Vorschriften folgt, kann mechanisch vollzogen werden. Eine Maschine, welche Denk- in Handlungsprozesse überführt, kann daher im Prinzip jede gewünschte Operation ausführen, wenn diese eindeutig bestimmt und in einer kontextfreien, formalen Sprache formuliert werden kann. Das gedankliche Experiment führte Turing zur Idee einer universalen Maschine, deren Architektur den Computer beschreibt. „Ich verfechte die Behauptung“, schreibt Turing, „daß Maschinen konstruiert werden können, die das Verhalten des menschlichen Geistes weitestgehend simulieren können.“

Eines der wichtigsten Felder für die Erprobung seiner Maschine und Prüfstein für die Möglichkeit der Simulation menschlichen Denkens war das Schachspiel. Der abgegrenzte Raum des Spiels und die komplexen Bewegungsarten der Figuren erschienen Turing als ideale Arena, in der sich zukünftig die Kräfte künstlicher Intelligenz mit denen des Menschen messen könnten.

Turing verstand nicht allzu viel vom Schach, doch gemeinsam mit den Schachmeistern Hugh Alexander und Harry Golombek entwarf er einen Papiercomputer, ein Manual mit Anweisungen, durch die ein Mensch ohne jede Ahnung vom Schach – Turing nannte ihn den „Sklaven“ – eine Partie spielen kann, indem er sich exakt an die Anweisungen hält. Das Spiel seines ersten Programms glich zunächst einer Karikatur seines eigenen Spiels, aber es erwies sich, dass es prinzipiell möglich war, Denkoperationen im Schach in Handlungsanweisungen zu übersetzen. Ende der 40-er Jahre prophezeite Turing, „daß es nicht lange dauern wird, bis unsere schwachen Kräfte übertroffen sein werden, wenn die maschinelle Denkmethode einmal eingesetzt hat. Ab einem bestimmten Zeitpunkt müssten wir damit rechnen, dass die Maschinen die Macht übernehmen.“

Aus dem Blickpunkt der Gegenwart wird man Turing Recht geben müssen. Schachcomputer bewähren sich im Imitationsspiel bestens, für einen kurzen historischen Augenblick wurden wir noch Zeugen einer Balance der Kräfte von Mensch und Maschinen, doch heute unterscheiden sie sich vom Spiel der Menschen bloß durch ihre Überlegenheit. Das Spiel der Vernunft ist schaltbar geworden, zufällig ist in diesem Universum nichts, es herrschen die Kräfte schaltbarer Mechanik. In der Welt Turings, Einsteins und des gläubigen Christen würfelt Gott nicht. Oder, wie einmal jemand listig hinzugefügt hat, wenn doch, dann tut er es nur heimlich.

II

Unsere tägliche Erfahrung am Schachbrett (und im unendlich komplexeren Alltag) sagt uns etwas anderes. Die Existenz des Zufalls ist offenkundig. Zufällig lernen wir Menschen kennen, mit denen wir unser Leben verbringen, zufällig fallen Ziegel von Dächern, die dieses beenden. Zufällig verlieren wir eine Partie und sagen mit gutem Recht: „Ich hatte Pech gestern.“ Und zumindest unsere Freunde werden nicht widersprechen.

Natürlich wissen wir, dass auch der Würfel nicht zufällig fällt, doch beobachten wir, dass die von uns erlebte Welt nur selten so euklidisch funktioniert wie die Wissenschaft sie sieht, und seltsamerweise pflegen wir einen, der sein Leben stets unter der Perspektive absoluter Ordnung führt, eher den Besuch beim Arzt zu empfehlen als ihn zu bewundern. Warum eigentlich?

Kaum 15 Jahre, nachdem Immanuel Kant der Welt die Frage beantwortete, was Aufklärung ist, bot Francisco Goya in Madrid eine Serie von Radierungen mit dem Titel Los Caprichos an, Nummer 43 gehört zu den meistdiskutierten und vieldeutigsten Blättern der Mappe. Das Blatt zeigt einen schlafenden Mann umgeben von Ungeheuern. Links unten setzt Goya die berühmte Zeile: „El sueño de la razón produce monstruos“, der Schlaf der Vernunft gebiert Monster. Doch das Goyasche „sueño“ ist mehrdeutig, die Semantik des Wortes umfasst im Spanischen Schlaf wie Traum, so dass Goyas Blatt es offen lässt, ob es der Schlaf, also das Aussetzen der Vernunft, ist, der die Ungeheuer erzeugt, oder der Traum der Vernunft.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich zunehmend diese zweite Bedeutung des Wortes durchgesetzt. Eine sich von den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen verselbständigende, sich selbst absolut setzende Vernunft wird als technisch-wissenschaftliche Zweckrationalität erkannt, der Kampf gegen den Zufall als Instrument von Herrschaft und Kontrolle über die Natur und das eigene Selbst. In der Krise der Rationalität veränderte sich auch der Blick auf den Schachspieler und sein Spiel. Die Welt als Schachspiel gedacht, erscheint nun als Labyrinth ohne Transzendenz und Ideal, bei deren Erforschung sich bei den Spielern nicht mehr jenes heitere Selbstbewusstsein einzustellen vermag, das ihnen die Aufklärung als Substitut für den fehlenden Glauben versprach. Im Gegenteil: Der schachspielende Komponist Adrian Leverkühn in Thomas Manns „Dr. Faustus“, der traurige Lushin in Nabokovs „Lushins Verteidigung“, Becketts „Murphy“ oder Dr. B. in Stefan Zweigs „Schachnovelle“ erscheinen allesamt als durch ihre eigene Rationalität Beschädigte, verstrickt in das Endspiel ihrer Existenz, dem kein Sinn abzuringen und das nicht zu gewinnen ist. Auch in der Negation erweist sich das Schachspiel somit als Begleiter des Disputes um Vernunft: als Allegorie der Schattenseiten, die das grelle Licht der Aufklärung erzeugt.

Lange hat Schach einzig das Lied der Ordnung gesungen, in vielem war es der Beleg für den nichtwürfelnden Gott Einsteins und fungierte als Exerzierplatz für Turings Traum von einer widerspruchsfreien deterministischen Welt. Doch lässt sich das Schachspiel heute vielleicht auch aus der ambivalenten Perspektive Goyas betrachten. Unterstützung erhält eine solche Auffassung, die dem Absolutheitsanspruch, den Zufall aus der Welt zu bannen, skeptisch begegnet, von der Wissenschaft selbst. Es gehört zu den schockierendsten Ergebnissen der Physik des 20. Jahrhunderts, dass sich aus der Unordnung auch Ordnung ergeben kann und dass sich die Gewissheiten des Determinismus im mikroskopischen Bereich auflösen. Über den Aufenthaltsort eines Teilchens lassen sich seltsamerweise keine vollständig exakten Aussagen machen, es sind nur Angaben über Wahrscheinlichkeiten möglich. Im Alltag kommen wir damit gut zurecht, indem sich auf makroskopischer Ebene die Dichte der Wahrscheinlichkeiten zu Fast-Gewissheiten fügt, doch sind der Zufall und die Unordnung – Einstein zum Trotz – in der Welt. Zudem lässt sich das Spiel angesichts seiner Komplexität legitim nicht allein aus der Perspektive der Ordnung sondern auch aus der Perspektive fortwährend entstehender turbulenter Unordnungen betrachten. Wie das Wetter oder Poincarés Drei-Körper-Problem könnte man das Schachspiel als System auffassen, das so sensibel auf minimale Veränderungen reagiert, dass Prognosen mit linearen Modellen hier keine gute Strategie sind. Die übermenschliche Suche nach dem Absoluten erweist sich in solch chaotischen Systemen nicht nur als unmenschlich sondern als unvernünftig.

III

Arthur Schopenhauer war weder ein guter Aufklärer noch ein guter Christ. „Das Schicksal,“ kann man in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit nachlesen, „mischt die Karten und wir spielen. Meine gegenwärtige Betrachtung auszudrücken, wäre aber das folgende Gleichniß am geeignetsten. Es ist im Leben wie im Schachspiel: wir entwerfen einen Plan: dieser bleibt jedoch bedingt durch Das, was im Schachspiel dem Gegner, im Leben dem Schicksal zu thun belieben wird. Die Modifikationen, welche hierdurch unser Plan erleidet, sind meistens so groß, dass er in der Ausführung kaum noch an einigen Grundzügen zu erkennen ist. Übrigens giebt es in unserem Lebenslaufe noch etwas, welches über das Alles hinausliegt. Es ist nämlich eine triviale und nur zu häufig bestätigte Wahrheit, dass wir oft törichter sind als wir glauben.“

Der Vergleich des Lebens mit dem Schachspiel diente Schopenhauer zur Akzeptanz des unberechenbaren Zufalls. Wohl ist der Zufall eine „böse Macht“, das Leben eine „mißliche Sache“, besser vielleicht man wäre nicht geboren, und man spielt im Angesicht des eigenen Todes eine aussichtslose Partie. Aber das ist kein Grund, sonderlich traurig zu sein. Wie das Schachspiel ist das Leben im Grunde profan, alle Partien terminiert der je individuelle Tod, sie sollten deshalb in der Gewissheit der Endlichkeit gespielt werden.

Wenn denn Schach im 21. Jahrhundert noch eine Schule des Lebens ist, so sieht es eine Lektion in der Akzeptanz des Zufalls vor. Wovon könnte es dabei sinnvoll erzählen? Vielleicht von einer Vernunft mit menschlichem Maß, einer praktischen Vernunft im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, von einem mit gegenseitigem Respekt betriebenen Spiel der vorsichtigen Relativität und des pyrrhonischen Zweifelns: Jeder Zug ist Zweifel am vorhergehenden, vieles bleibt zufällig am Schachbrett wie im Leben. Zu akzeptieren, dass der Zufall kein Betriebsunfall im Leben und in der Geschichte ist, nicht „misslungene Absolutheit“ sondern „geschichtliche Normalität“ (Odo Marqard) fällt gewiss nicht leicht. Doch dies ist vielleicht der Sinn einer menschlichen und nicht mehr göttlichen Übung am Schachbrett.

Die Frage nach der göttlichen Antwort beim ersten Zug am Schachbrett löst sich im Übrigen auf. Der christliche Gott spielt überhaupt nicht, er ist nicht als Spieler sondern nur als großer Uhrmacher vorstellbar und irgend erträglich. Ein spielender Gott macht nur im Plural Sinn, sodass die Welt als Schachspiel gedacht im Grunde eine heidnische Vorstellung ist. Im Plural relativiert sie den Wahrheitsanspruch, sie lässt, indem stets mehrere Götter spielen, die Existenz des Zufalls zu. Das macht zwar ein wenig Angst, aber auch Lust – einen Heidenspaß eben.