EDITORIAL

LIEBE KARL-LESER,

für viele Schachspieler meiner Generation war der „Berliner Sommer“ der erste schachliche Zugang zur deutschen Metropole. In den Achtzigern war Westberlin eine isolierte Stadt und mit ihrer Mauer einer der Hauptkampfplätze des Kalten Krieges. Der Berliner Sommer zählte damals mit Weltklassespielern wie Tal oder Kortschnoi zu den stärksten Open der Welt. Jedes Jahr wurde woanders gespielt, oft in Hotels in der Nähe vom Zoo, wo man sich allabendlich im berüchtigten Café Belmont traf. Alfred Seppelts Berliner Sommer hatte für mich ein unvergleichliches Flair, weil die Atmosphäre des Turniers und der Stadt miteinander verschmolzen.

Blickt man in die Berliner Geschichte, erkennt man, wie Schach immer wieder auch mit einem genuinen Lebensgefühl verbunden war. Der erste Schachclub entstand schon 1803 als Künstlertreff um den Bildhauer Johann Gottfried Schadow. 1827 entstand die Berliner Schachgesellschaft (BSG), heute der älteste noch existierende Schachverein Deutschlands. Schon bald taten sich einige Meister aus diesem Club hervor, die das Spiel systematisch betrieben und die die ersten Stars einer noch jungen Schachgeschichte werden sollten – die „Plejaden“ um Tassilo von Heydebrand und der Lasa. Unser Autor Michael Dombrowsky skizziert den Werdegang dieses ruhmreichen Clubs bis in die Gegenwart.

Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Schach etabliert und zum Sport entwickelt, der in Turnieren seine Helden ermittelte. Dass die Durchführung solcher Veranstaltungen noch nicht reibungslos verlief, zeigt das Jubiläumsturnier der BSG von 1897, dessen Umstände Michael Negele rekonstruiert.

In den zwanziger Jahren begannen in Berlin ausgelassene Zeiten und der Potsdamer Platz wurde zu einem Nabel der Welt. Für jene Aufbruchsstimmung mag auch der Verleger, Mäzen und Organisator Bernhard Kagan stehen. 1921 etablierte er mit seinen Neusten Schachnachrichten eine Zeitschrift, für die viele Spitzenspieler als Autoren arbeiteten. Michael Ehn schildert, wie dieses Multitalent durch das gute Verhältnis zur Schachprominenz zu einer Schlüsselfigur der zwanziger Jahre wurde.

Die Berliner Mauer ist schon seit der Wende verschwunden, im Schach feierte sie dagegen im Jahr 2000 ihre Auferstehung, als Kramnik die Berliner Verteidigung zu seiner Hauptwaffe im WM-Match gegen Kasparow machte. Mihail Marin stellt bei seiner Untersuchung zur Entwicklung dieser Variante fest, dass sie leicht schon viel früher hätte in Mode kommen können.

Ein Urgestein der Berliner Schachszene ist Freerk Bulthaupt. In unserem Porträt erzählt der langjährige Vorsitzende des SK Zehlendorf, der einst zu den besten Spielern Berlins gehörte, aus seinem bewegten Leben und erinnert sich an viele Schachpersönlichkeiten seiner Stadt.

Leider müssen wir mit dieser Ausgabe den Verlust einer der großen Streiter für die Schachkultur beklagen. Ende April ist der langjährige KARL -Mitarbeiter Hans Holländer in Berlin verstorben. Einen Nachruf, der einen kleinen Einblick in das gewaltige Schaffen des Kunsthistorikers gibt, finden Sie auf Seite 8.

Harry Schaack