Harry Schaack Editorial 2

EDITORIAL

LIEBE LESER,

das Thema „Eröffnung“ ist ein weites Feld. Das zeigt schon eine einfache Statistik, die im Oxford Companion to Chess nachzulesen ist: Weiß hat 20 Möglichkeiten, die Partie zu eröffnen, schon bei der Erwiderung von Schwarz können daher 400 verschiedene Stellungen entstehen. Macht jeder drei Züge, gibt es bereits 9.000.000 mögliche Stellungen. Das macht deutlich, wie lange es dauerte, bis sich feste Eröffnungssysteme und allgemein akzeptierte Zugfolgen etablieren konnten. Die ersten Vorläufer der Eröffnungen waren die „Tabijen“, wie im Schatrandsch, dem Vorläufer des europäischen Schachs, die diversen Grundaufstellungen genannt wurden, aus denen heraus man eine Partie begann. Heute ist die Eröffnungsvielfalt gewaltig. Trotz – oder gerade wegen – der Computer gibt es immer wieder neue Ideen, werden die Eröffnungen stets theoretisch vorangetrieben, und Neuerungen im 30. Zug sind in der Weltspitze durchaus nicht unüblich.

KARL ist, wie einige Leser vielleicht noch wissen, aus der Vereinszeitung der Schachfreunde Schöneck hervorgegangen. Dieser Verein hat tatsächlich selbst einen Beitrag zur Entwicklung der Eröffnungstheorie beigesteuert. „Die Ampel“ – wie die obskure Sequenz 1.Sf3 nebst Tg1 und g4 von meinen Vereinskameraden getauft wurde – wirkte bizarr und verbreitete bald Schrecken, konnte sie doch von unseren besten Spielern selbst auf einem Niveau von 2400 erfolgreich angewendet werden. Das zeigt, dass spielbare Neuerungen selbst in der frühen Partiephase durchaus von Amateuren gefunden werden können.

Im vorliegenden Heft blickt auch unser Autor Mihail Marin zurück auf seine Anfangszeit. Der Großmeister zeigt anhand von spektakulären Informator-Neuerungen aus den Siebzigern die „Logik der Schachentwicklung“. In Abwesenheit von Computern bildete vor allem das Kriterium der „Entwicklung“ den roten Faden beim Finden neuer Züge.

Zu jener Zeit war der Informator die wichtigsten Referenz der Eröffnungstheorie. Das Werk hat zur Demokratisierung des Schachwissens beigetragen, das zuvor vor allem die sowjetische Schachschule verwaltete. KARL hatte Gelegenheit, mit dem Gründer des Informators, Aleksandar Matanovic, über eine 44 Jahre währende Erfolgsgeschichte zu sprechen.

Während in den 70ern die Eröffnungssysteme meist ausgefeilt wurden, diskutierten die Hypermodernen um Tartakower, Réti und Nimzowitsch um Grundsätzlicheres. Sie wollten die alte Schule der Couleur Tarraschs ablösen. Den alten dogmatischen Grundsätzen stellten sie eine dynamische Spielauffassung entgegen, die von Beginn an darauf spekulierte, das Zentrum nicht zu besetzen, sondern es zu unterminieren. In 20 Stich- und Schlagworten beschreibt Michael Ehn eine der produktivsten
eröffnungstheoretischen Phasen der Schachgeschichte.

John Watson gilt nicht erst seit dem großen Erfolg seines Werks Geheimnisse moderner Schachstrategie als renommierter und gefragter Autor. Im KARL-Interview sagt der Amerikaner, worauf es beim Eröffnungsstudium ankommt.

Mit unserem Redaktionsschluss fällt der Beginn der Olympiade zusammen. Nach Chanty-Mansijsk schickte der Deutsche Schachbund wegen Querelen mit den Spitzenspielern nur eine B-Mannschaft. Auch die Nr. 5 der deutschen Rangliste, Igor Khenkin, ist nicht dabei. In unserem Porträt spricht der in Wiesbaden wohnende Großmeister u.a. über die Gründe.

Harry Schaack