DIE BLAUE BLUME DER ROMANTIK VERBLÜHT NIE …

Der Schachkünstler Jacques Mieses und sein Lebensabend als Grand Old Man of Chess

Von Michael Negele

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/12.)

Jacques Mieses
Jacques Mieses beim „Victory Congress“ 1945/46 in Hastings. Dort trat der Veteran zuletzt zur Jahreswende 1949/50 im Premier Reserves A an, landete jedoch am Tabellenende.

Die Spezies Mensch ist in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer älter geworden, im Zuge zunehmender Industrialisierung stieg die Lebenserwartung streng linear um ca. 40 Jahre. Aufgrund einer drastisch veränderten Altersverteilung stellt sich damit die Frage, wie alternde Gemeinschaften mit Gebrechlichkeit, Vereinsamung und Pflegebedürftigkeit umgehen werden. Mentale Gesundheit ist eng mit psychosozialer Integration und dem lebenslangen Lernen verknüpft, hierauf haben Spiele, d.h. interaktive Freizeit-Beschäftigung, einen positiven Einfluss. Die Kombination „Spiel im Alter“ erscheint bei erster Annäherung unzulässig, verbinden wir Spielen doch am ehesten mit unserer Kindheit. Aber es gehört ebenso zur menschlichen Kultur wie wissenschaftliche Erkenntnis oder künstlerisches Schaffen. Unter den Berufsschachmeistern gab (und gibt) es jedoch nur wenige, die sich über das siebte Lebensjahrzehnt hinaus – aus medizinischer Sicht im Senium, dem Greisenalter – regelmäßig an Turnieren beteiligten, d.h. ihre berufliche Arbeit unentwegt fortsetzten.

Heutzutage wird man Viktor Kortschnoi als solches Phänomen ansehen, doch selbst der scheinbar unverwüstliche Emanuel Lasker fühlte sich nach seinem 60sten Geburtstag den Strapazen kaum mehr gewachsen. Dieser Beitrag ist einem Mann gewidmet, der mit 73 Jahren ungewollt seinem gänzlich dem Schach gewidmeten Leben einen neuen Inhalt geben musste und diese Herausforderung in der ihm eigenen Weise mit Bravour meisterte.

Bis kurz vor seinem Tode sollte es Jacques Mieses (*27. Februar 1865 in Leipzig, † 23. Februar 1954 in London) gelingen, die für Vergreisung charakteristische Veränderung, die sich in der Abnahme körperlicher und geistiger Leistungsfähigkeit manifestiert, in ungewöhnlichem Maße aufzuhalten. Ein wesentlicher Aspekt für die erstaunliche Frische des Veteranen vieler Schlachten auf dem Schachbrett war dessen relative Zufriedenheit mit der gegebenen Lebenssituation.

Die jüdische Familie Mieses stammte aus dem ukrainischen Brody, nordöstlich von Lwow; Jacques Vater Pincus Julius Mieses wurde dort 1833 geboren, die Mutter Henriette, geb. Haendler, 1845. Mitte des 19. Jahrhunderts zog es die gutsituierte Kaufmanns-Sippe nach Leipzig. Über seinen aus der Art geschlagenen Sohn äußerte sich Julius Mieses später recht launig (das Zitat wird hier auszugsweise und nicht ganz wortgetreu wiedergegeben): „Am 27. Februar 1865 wurde uns das erste Kind, ein Sohn, geboren: Jacob. Er entwickelte sich gut und wurde ein sehr hübscher Knabe, ein lebhafter Windfang, es fiel schwer, ihn zu erziehen. Er ging zur Bürgerschule am Augustusplatz, wo seine Lehrer etliches von ihm auszuhalten hatten. (…) Später kam er ins Thomas-Gymnasium, wo er in den ersten Klassen weniger als gut lernen wollte. Direktor und Lehrer hatten sich stets zu beklagen, ein Hilfslehrer und ein Student gaben ihm Nachhilfe. In den höheren und letzten Gymnasialklassen änderte sich das Bild, er besaß sehr gute Auffassungskraft und Begabung, machte das Abiturientenexamen cum laude und erhielt eine Prämie. (…) Er besuchte die Universitäten in Leipzig und Berlin, studierte Physik und Chemie mehrere Jahre, aber er hatte ein undankbares, nicht lohnendes Studium gewählt.“

Die angedeutete immense Aktivität des Heranwachsenden bestimmte das ganze spätere Leben: Mieses war enorm umtriebig und sozusagen in permanenter „Zeitnot“, selbst der Achtzigjährige beklagte diesen Zustand. Fritz Sämisch (1896-1975) meinte in seinen recht subjektiven Erinnerungen an Mieses im Schach-Echo vom 20. April 1954: „Trotz seines vorgerückten Alters (…) waren seine letzten Jahre von einer auffallenden Unrast verdüstert; er war mehrmals in Deutschland, besuchte auch Holland, Luxem­burg, Schweden und, wie aus mancherlei Briefen hervorging, wollte er noch immer aktiv bleiben, Bücher herausgeben, nach Amerika reisen. Nun hat er seinen Frieden gefunden! (…) Man konnte (…) sehr gut mit ihm plaudern, falls er Zeit dafür fand. Infolge seiner vielseitigen Betätigung war er sehr nervös und nur ausnahmsweise dafür zu haben. (…) Mieses war eine stattliche Erscheinung, ein weitgereister, gebildeter Mann, eine äußerst vielseitige und tätige Persönlichkeit.“

Wegen der Häufung von Misserfolgen Mitte der zwanziger Jahre sahen unbedarfte Chronisten in Mieses nicht selten „Kanonenfutter“ für erfolgreichere Zeitgenossen. Dessen enorme Spielstärke beschrieb Sämisch mit hohem Respekt im März-Heft 1954 von Das Meisterliche Schach: „Ein besonders interessanter Fall ist z.B. Mieses. Man könnte meinen, sein glänzender Erfolg in Wien 1907 sei nur einmalig gewesen und seine übrigen, wenn auch sehr achtbaren Ergebnisse nicht wesentlich bedeutender als die Erfolge vieler anderer Meister, welche nicht den Titel „Großmeister“ erlangten. Dabei wird aber übersehen, wenn er auch nicht über die Härte und Ausdauer von Lasker und Tarrasch verfügte, war er immer ein gefährlicher Gegner und schlug u.a. (… und oft in überaus glänzenden Partien) Tarrasch, Schlechter, Pillsbury, Janowski, Marshall, Teichmann, Bogoljubow, Rubinstein, Nimzowitsch, Spielmann usw.“

Folgt man dem autobiographischen Rückblick „Einst und jetzt – Eine Schachplauderei von J. Mieses“ in Kurt Richters Deutschen Schachblättern (April und Mai 1950), fand der Jugendliche im 15. Lebensjahr (1879) zum Schach. Er war verwandtschaftlich „vorbelastet“, denn sein früh verstorbener Onkel Dr. Samuel Mieses (1841-1884), der in Breslau und Berlin Medizin studiert hatte, galt, gemäß des Nachrufes der Deutschen Schachzeitung, „als einer der begabtesten Schüler Anderssens“. Der gut drei Jahre älterer Cousin Victor Mieses (1861-1939), später renommierter Rechtsanwalt und Notar in Leipzig, war schon in jungen Jahren als begabter Problemkomponist dem Schach verbunden. Somit verwundert es kaum, dass der 15-jährige Jacob seine ersten Meriten mit der Veröffentlichung eines Dreizügers in der DSZ 1880 erwarb. Rasch folgten Erfolge im Turnierspiel, so berichtete die DSZ im Mai/Juni-Heft 1882 vom Sieg des 17-Jährigen im Winterturnier der Leipziger Augustea vor G. Bock und H. G. Haendler; möglicherweise ein Verwandter mütterlicherseits. Bereits im Sommer 1885 fühlte sich Mieses stark genug, für das Hauptturnier des vierten Kongress des Deutschen Schachbundes in Hamburg zu melden. Der junge Student landete trotz kämpferischer Einstellung mit drei Siegen und fünf Niederlagen im geschlagenen Feld. Immerhin ließ er sich durch den Misserfolg nicht verdrießen und errang im anschließenden freien Turnier den zweiten Platz hinter Marcus Kann aus Wien. Zwei Jahre später errang Mieses beim Hauptturnier des Frankfurter Kongresses 1887 souverän den zweiten Platz in seiner Vorgruppe. Allerdings verscherzte sich der Leipziger Jungstar in der ominösen letzten Runde der Siegergruppe den begehrten Aufstieg in die deutsche Meisterklasse durch eine unnötige Niederlage aus Gewinnstellung gegen den Wiener Johann Hermann Bauer.

Offenbar bot dann seine Heimatstadt dem aufstrebenden Meisterkandidat (oder gar dem eifrigen Studenten der Naturwissenschaften) nicht mehr genügend Herausforderung: Zum Wintersemester 1887 schrieb sich Mieses an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin ein und wurde Mitglied der Berliner Schachgesellschaft. In deren erstem Winterturnier sicherte er sich hinter Horatio Caro den zweiten Platz.

Der Problemfreund Johannes Hugo Wilhelm Obermann aus Leipzig beschrieb mit ironischem Unterton die Gemütslage des Unglücksraben im April-Heft 1888 der DSZ: „Herr Mieses verlor die entscheidende Partie im Frankfurter Hauptturnier durch ein Versehen und muss nun, welche Schmach!, weitere zwei Jahre in der niederen Klasse sitzen bleiben, ja und nach Ablauf dieser Zeit kann Herrn Mieses das nämliche Malheur nochmals am Aufsteigen hindern! Mieses soll der Verzweiflung nahe sein!“

Jacque Mieses Mitte der zwanziger Jahre
Jacque Mieses Mitte der zwanziger Jahre

Dieser Zustand währte nicht allzu lange, denn maßgebliche Schachfunktionäre (aus Leipzig) regte ein bemerkenswertes Mitgefühl mit dem vielversprechenden Schachtalent. Im August 1888 durfte Mieses am deutschen Meisterturnier des zweiten Bayerischen Schachkongresses in Nürnberg teilnehmen. Voll des Lobes war der Turnierbericht der DSZ im September 1888: „J. Mieses war einstimmig zur Beteiligung zugelassen worden, er hat diese Begutachtung als Meister auch glänzend gerechtfertigt.“ Anders lässt sich der zweite Platz hinter Tarrasch, geteilt mit von Gottschall, nicht bezeichnen.

Schon im Dezember 1888 bot sich eine weitere Gelegenheit – sogar vor heimischem Publikum – den Titel Meister des Deutschen Schachbundes zu bestätigen. Denn die Schachgesellschaft Augustea beging ihr vierzigstes Stiftungsfest mit einem Acht-Meister-Turnier, das Curt von Bardeleben gemeinsam mit Fritz Riemann gewann. Mieses wurde alleiniger Dritter und hatte damit endgültig seine Meisterstärke bewiesen.

Beim sechsten Kongress des deutschen Schachbundes in Breslau traf „stud.“ Mieses im internationalen Meisterturnier erstmalig auf die starken Professionals der britischen Insel. Er bewährte sich erneut hervorragend, lediglich Siegbert Tarrasch und Amos Burn lagen am Ende der 17 Runden vor ihm. Wiederum war es die DSZ, die im Oktober-Heft 1889 ihren Lokalmatador in den höchsten Tönen lobte: „Mieses zeigt in seinem Spieltypus eine hervorragende Originalität insofern, als er trotz ziemlich geringer theoretischer Ausbildung dem Gegner durch die Behandlung der Eröffnung Schwierigkeiten zu bereiten sucht. Im Ganzen mehr Angriffs- als Verteidigungsspieler, pflegt er seinen Partien einen lebhaften, prickelnden Charakter zu verleihen, so dass die Partie für beide Teile schwierig zu führen ist und immer scharf auf Gewinn oder Verlust steht.“

Damit schien das deutsche Schach unvermittelt über die Doppelspitze Tarrasch/ Mieses gegen das wenig geschätzte Berufsspieler-Klientel der Briten zu verfügen. Doch zum Jahreswechsel 1889 erlitt der nun allseits anerkannte Meisterspieler jenes Schlüsselerlebnis, das seine weitere Karriere maßgeblich beeinflussen sollte. Mieses vereinbarte mit dem in Breslau überraschend zu Meisterehren gekommenen Berliner Emanuel Lasker „leichtsinnig“ einen Wettkampf auf fünf Gewinnpartien. Es wurde in der Centralhalle zu Leipzig gespielt, der beiderseitige Einsatz belief sich auf sagenhafte 450 Mark. Den einseitigen Verlauf dieses Matches hat Dr. Robert Hübner im „Lasker-KARL“ 1/2008 ausführlich dargestellt. Bekanntlich kam Jacob Mieses fürchterlich unter die Räder, denn der knapp vier Jahre jüngere Lasker erwies sich ihm in allen Belangen überlegen. Offenbar vermittelte dieser auf hohem Niveau ausgefochtene Wettkampf beiden Kontrahenten weitreichende Erkenntnisse: Lasker gab in der Folge sein Mathematik-Studium auf und begab sich nach England und später in die USA, wo er 1894 Wilhelm Steinitz besiegte und Schachweltmeister wurde.

Hinsichtlich kaufmännisch erfolgreicher Gepflogenheiten hätte Emanuel Lasker allerdings durchaus von seinem in dieser Hinsicht überaus geschickten Leipziger Kollegen profitieren können. Zwar bescheinigte das englische Turnierbuch Hastings 1895 Emanuel Lasker „anders als den meisten Schachexperten einen erstklassigen Geschäftssinn“, doch bekanntlich gelang es ihm selten, nachhaltig gute Geschäfte zu machen.

Hingegen war Jacques – wie er sich wohl ab 1895, vielleicht nach seinem Pariser Wettkampf mit Dawid Janowski nannte – Mieses, den die gleiche Quelle als „Mann mit geschliffenen Manieren und umfassender Bildung“ charakterisierte, gleichermaßen beliebt wie geschäftstüchtig. Während Emanuel Lasker – zumindest vor seiner Eheschließung – eher etwas „abgerissen“ wirkte, legte der ihm freundschaftlich verbundene Jacques Mieses großen Wert auf gepflegtes Äußeres und erschien mitunter im Frack zu seinen Séancen. David James Morgan (1894-1978) berichtete kurz vor seinem Tod im BCM 1976 von einem nachmittäglichen „Beutezug“ Mieses‘ durch Liverpool im Jahr 1923, um dezent kolorierte Krawatten zu erwerben. Und Edward Lasker bescheinigte in seinen Chess Secrets, dass Mieses in den „Goldenen Zeiten“ vor dem Ersten Weltkrieg wohl der einzige Berufsmeister Berlins war, dessen Einkünfte auf halbwegs gesicherter Basis standen. Der smarte Junggeselle Mieses behielt seine beiden Wohnsitze in Leipzig und Berlin über Jahrzehnte aufrecht, nicht ohne die doppelte Haushaltsführung bei den Auftraggebern seiner „Dienstreisen“ geltend zu machen. Da bekanntlich der „Markt das Geschäft“ bestimmt, offerierte Meister Mieses Simultanvorstellungen zum fixen Honorar von zwanzig Mark und ließ sich zusätzlich Kost und Logis ersetzen. Da der Großmeister ein schlagfertiger und humorvoller Unterhalter war, gutes Essen schätzte und insbesondere als Weinkenner galt, waren die Gastgeber von seiner Volksnähe schier begeistert.

Weltmeister Lasker hingegen forderte grundsätzlich eine damals schmerzhaft hohe Pauschale von 60 Mark pro Veranstaltung und bestritt seine sonstigen Auslagen zumeist aus eigener Tasche. Dabei war Lasker keineswegs gierig, sondern – wie Mieses später Hans Kmoch erklärte – lediglich völlig unrealistisch, was kommerzielle Angelegenheiten betraf.

Jacques Mieses in Hastings 1945/46
Jacques Mieses in Hastings 1945/46

Seiner eigenen hohen Meinung von Emanuel Lasker verlieh Mieses 1950 im erwähnten Artikel Ausdruck, u.a. ging er auf dessen bemerkenswerte Stärke ein: „Der erfolgreichste Meister meiner Generation war Emanuel Lasker. Er besaß bekanntlich in einem bisher unerreichten Grade die spezielle Gabe, den schwachen Punkt im Spieltypus seines Gegners herauszufinden und auszunutzen. Er spielte, sozusagen, weniger „gegen das Brett“ als „gegen den Spieler“. Für einen Matador von dieser besonderen Eigenart war es ein nicht zu unterschätzender Vorteil, dass sein schachliches Wirken in eine Epoche fiel, die einen außergewöhnlich hohen Prozentsatz an Individualitäten darbot.“

Im Kondolenzschreiben an Martha Lasker vom 20. März 1941 hatte Jacques Mieses der Witwe noch tiefgreifender seine Bewunderung für den verstorbenen Freund übermittelt: „Wenn jetzt nicht Krieg wäre, und wenn wir beide nicht so weit von einander getrennt wären, so würde es, glaube ich, ein guter Plan sein, gemeinschaftlich ein „Laskerbuch“ zu verfassen, das, im Anschluss an die von Dir geschriebene Biographie eine Auswahl seiner besten Partien mit sorgfältigen Anmerkungen enthalten würde. Als einen charakteristischsten Charakterzug Emanuels könntest DU hervorheben, dass er, bei allem – gewiss sehr berechtigtem – Selbstvertrauen völlig frei von Selbstüberschätzung war. Im Gegenteil: er neigte zu einer scharfen, fast möchte ich sagen schonungslosen Selbstkritik, wofür ich Belege anführen könnte.“

(Der Artikel ist auszugsweise wiedergegeben.
Den ganzen Text lesen Sie in KARL 3/12.)