GRÜSSE AUS…

Jerusalem Postkarte

Von Alon Greenfeld

Warum Jerusalem, warum Israel? Ist das schon eine politische Frage? Nicht für mich persönlich, aber nahezu alles, was heute in Israel geschieht, hat auf die eine oder andere Weise mit Politik zu tun. Hier bezieht sich die Frage natürlich auf die Wahl des Austragungsortes für den Auftakt des Matches Kasparow – Deep Junior.

Es mag weitere Überlegungen geben, aber zwei Gründe liegen auf der Hand: Kasparow unterstützt Israel, wo er kann – die Internetfirma Kasparov Chess Online ist hier angesiedelt, seine Schachakademie ebenfalls, er verteidigt Israel in seinen internationalen Kolumnen. Und sein Gegner Deep Junior, der gegenwärtige Weltmeister der Schachprogramme, stammt von zwei Israelis, Amir Ban und Shay Bushinsky.
Als der Wettkampf im August angekündigt wurde, stand bereits ein anderer hochklassiger Mensch-Maschine-Vergleich bevor. Einige Journalisten fassten die Ankündigung aus Israel als Provokation gegen Kramnik – Fritz in Bahrain auf. Mir hat dieses Match gefallen. Anders als einige meiner Kollegen, die mutmaßten, das Ergebnis sei vorher abgesprochen gewesen, bin ich überzeugt, dass wir ein Duell zwischen Mensch und Maschine in purer Form erlebt haben. Besonders beeindruckt hat mich Kramniks strategische Dominanz. Wie er aus dem gesamten Spektrum der Eröffnungen genau die Art von Stellung erreichte, die er erreichen wollte, ist einzigartig. Allerdings war es kein völlig fairer Vergleich. Kramnik bekam die Fritz-Version, gegen die er antrat, vor dem Match. Dies ist kein Vorwurf gegen Kramnik, aber die Tatsache, dass er vorher alles nach Belieben testen konnte, nahm dem Vergleich einiges an Schärfe.
Kasparow – Junior wird anders laufen. Die Programmierer dürfen vor und während des Matches Änderungen am Programm vornehmen, was Kasparows Aufgabe ziemlich erschwert. Der in Bahrain vernachlässigte psychologische Faktor wird in Jerusalem also eine wichtige Rolle spielen. Und Kasparow ist hoch motiviert, wieder als „Retter der Menschheit“ angesehen zu werden.

Das Match, das am 6. Januar im Hotel Burg David, dem ehemaligen Hilton, beginnt, (und ab 18. Januar in Jacksonville in den USA fortgesetzt wird) bietet eine gute Gelegenheit, einen Blick auf das Schachleben in Israel zu werfen. Wir sind eine Großmacht in der Schachwelt. Bei der Schacholympiade 1998 in Elista waren wir geteilter Dritter und sowohl 1978 in Buenos Aires als auch 2000 in Istanbul Fünfter. Unser Spitzenspieler Boris Gelfand gehört zu den Top Ten, nicht weit davon entfernt ist auch Ilja Smirin – beide traten im September in Moskau für die Weltauswahl gegen Russland an. Der Europameister von 2001 Emil Sutovsky, dessen Trainer ich bin, ist ungefähr die Nummer 30 in der Welt. Israel hat jetzt ungefähr vierzig Großmeister – bei einer Bevölkerung von nur sechs Millionen.
Die israelische Mannschaftsmeisterschaft ist sehr stark besetzt. Zwölf Teams spielen in der höchsten Liga, am ersten Brett liegt der Eloschnitt über 2550. Die Saison streckt sich über fünf Monate, wobei die letzten sechs Runden zentral ausgetragen werden; in den edlen Hallen des Sol und Sissy Mark – Zentrums in Nord Tel Aviv, wo auch Kasparows Schachakademie residiert. Das führende Team der letzten beiden Jahrzehnte kommt aus Beer Sheba, einer Stadt im Süden Israels. In den frühen Siebzigerjahren hat Eliahu Levant, ein Einwanderer aus Russland, dort jenen Klub gegründet, der mittlerweile ein Dutzend Mal Landesmeister wurde. In jüngerer Zeit hat Kfar-Saba (mit Emil Sutovsky, Vadim Milow, Eduardas Rosentalis, Alik Gershon, Konstantin Lerner) Beer Sheba die Vorherrschaft streitig gemacht und voriges Jahr den Titel geholt. Aber die interessanteste Saison war 2000. Die Website von Kasparow sponserte das Team von Rishon Lezion, das Garry Kasparow, Boris Gelfand, Judit Polgar, Viktor Kortschnoi, Boris Alterman und Lew Psachis an den ersten Brettern aufstellte. Für das wichtige Match gegen Beer Sheba holten sie alle Stars, aber sie schafften nur ein 3.5:2.5 – Kasparow kam gegen Awruch nicht über ein Remis hinaus, und Kortschnoi verlor gegen mich. So konnten wir Rishon Lezion in der allerletzten Runde noch überholen und damit die Meisterschaft abknöpfen. Zu der Zeit arbeitete ich bei Kasparows Website, und Sie können sich vorstellen, was mich am Morgen danach im Büro erwartet hat …
Soweit klingt es nach einem blühenden Schachleben in Israel. Leider kann davon kaum die Rede sein. Schach hängt in Israel ganz überwiegend von öffentlichen Geldern ab. Das wundert mich immer wieder aufs Neue, denn eigentlich besteht ein großes Potenzial für private Sponsoren. Es gibt viele Geschäftsleute russischer Herkunft, für die es ein Klacks wäre, ein Team oder ein Turnier zu finanzieren. Einer der Schachliebhaber ist Yoram Sebba, der geschäftsführende Manager der Technologiefirma Zim-Israel, die alle zwei Jahre ein Weltklasse-Schnellturnier organisiert. Aber aus irgendwelchen Gründen schafft es der Schachverband nicht, weitere Sponsoren anzuziehen. Teils liegt es an mangelnder Publicity. Ich erinnere mich noch, wie in den Achtzigerjahren die Ergebnisse eines unbedeutenden Kategorie 8-Turniers täglich in der größten Tageszeitung Israels standen. Heute wird nicht einmal über die Schacholympiade berichtet. Angeblich interessieren sich die Leser heute nicht mehr für Schach, dabei haben wir mittlerweile eine Million Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR dazu bekommen, und unter ihnen ist das Schachinteresse selbstredend am höchsten. Wäre Eliahu Shvidler, ein Internationaler Meister und ehemaliger Nationalspieler, nicht einer der führenden Sportjournalisten des Landes, käme Schach außerhalb der russschsprachigen Presse kaum vor. Dank Shvidler gab es in unserer anspruchsvollsten Tageszeitung Ha´aretz wenigstens einzelne Berichte während der Schacholympiade in Bled. Wenn nichts in Ha´aretz stand, lag es nicht am schlechten Abschneiden (mit dem nominell vierstärksten Team teilten wir am Ende Platz 8 bis 12), sondern daran, dass Shvidler gerade von einem Fußballspiel berichtete.
Natürlich gibt es viele Schachenthusiasten, man muss sie nur ausfindig machen. Während meiner militärischen Grundausbildung befahl mich einer meiner Vorgesetzten in sein Büro, um eine Partie Schach zu spielen. Es kam mir gelegen, denn die Alternative war, draußen im Regen zu exerzieren. Der Vorgesetzte nahm die schwarzen Figuren, und bevor ich Platz nehmen konnte, stand sein Bauer bereits auf e5. „Weiß fängt an“, sagte ich kleinlaut, doch er meinte nur: „Welchen Unterschied macht das?“ Ich konnte mich nicht durchringen, gegen ihn zu verlieren. Am Schachbrett bin ich nie zu solchen „positionellen Opfern“ fähig gewesen. Das ist der Grund, warum ich meinem Sohn das Spiel nie beigebracht habe. Ich wusste, dass er gegen mich spielen würde und ich ihn hin und wieder gewinnen lassen müsste. In seinem Fall habe ich eine Schlacht gewonnen und den Krieg verloren. Er lernte die Regeln von einem Klassenkameraden, mit dessen Vater ich früher in Jugendturnieren gespielt hatte.
Es gibt eine Reihe Politiker, die gerne Schach spielen, vor allem, wenn eine Kamera in der Nähe ist oder Kasparow ein Simultan gibt. Vor den Wahlen 1999 habe ich sowohl Benjamin Nethanyahu als auch Ehud Barak spielen sehen (Nethanyahu ist der Stärkere, ich meine: am Schachbrett). Aber die Schachliebe der Politiker verflüchtigt sich, wenn mehr als nur moralische Unterstützung gefragt ist.
Die einzige Ausnahme bildet Nathan Schtscharansky, der Vorsitzende der Einwandererpartei. Als Spieler hat er fast Meisterstärke. Beim Simultan hat er Kasparow geschlagen und Smirin ein Remis abgenommen. In der UdSSR musste er als Dissident neun Jahre in ein Straflager, wo Schach seine wichtigste Beschäftigung war. Schtscharansky kennt und liebt das Schachspiel und ist dessen einziger politischer Fürsprecher. Zuallererst ist er freilich Politiker, und als einige Spieler ihn kürzlich um Unterstützung baten, sagte er: „Ihr wisst doch, dass wir gewöhnlich erst aufwachen, wenn Wahlen bevorstehen.“ Demnach ist jetzt wohl der richtige Zeitpunkt, um wieder nachzufragen.

Die große Mehrheit unter unseren etwa zwanzig Berufsspielern sind russische Einwanderer. Bis in die Siebzigerjahre gab es einige talentierte Spieler, etwa Moshe Czerniak, der Profi war und gewiss Großmeisterstärke besaß, aber nie die nötigen Titelnormen schaffte. Anfang der Siebzigerjahe wanderte Großmeister Wladimir Liberson ein. Er war ein typischer Vertreter der sowjetischen Schachschule und ein nicht gerade freundlicher Mann, aber ein wahrer Patriot. Einmal traf er beim Open in Lone Pine auf einen jugoslawischen Großmeister, der ihm in einem Remisendspiel mit ungleichfarbigen Läufern erlaubte, einen Freibauern durchzubringen. „Siehst du“, sagte Liberson nach der Partie, „so laufen israelische Soldaten.“
Andere folgten: Psachis, Judaschin (für mich sind diese beiden die größten Talente), Smirin, Alterman, Husman, Awruch und einige mehr. Derzeit besteht das Nationalteam ausschließlich aus russischen Einwanderern. Unter denen, die in Israel aufgewachsen sind, bin ich der einzige, der gelegentlich noch zum Zug kommt. Andere begabte Spieler wie Gad Rechlis, Ilan Manor, Jona Kosaschwili und Eran Liss haben sich beruflich anders orientiert.
Einer der „Sabras“ (wörtlich Kaktus, der Begriff für in Israel geborene Juden) hasste die „Russen“ so, dass er seine Siege gegen sie zählte, wie ein Indianer erbeutete
Skalps. Ich betrachte alle als Kollegen und viele davon als meine Freunde, aber in jedem Fall sind alle Israelis. Darum ist es erstaunlich, dass sie selbst auf Unterscheidung bauen, etwa wenn sie untereinander Russisch sprechen. Das Einwanderungsministerium, sprich Schtscharansky, zahlt auch nur eingewanderten Nationalspielern (momentan acht, in der Vergangenheit bis zu 14) ein monatliches Stipendium von etwa 500 Euro.
Darum war es eine ebenso angenehme wie erfrischende Überraschung, einen „Sabra“ im Zusammenhang mit Schach in den Schlagzeilen zu finden. Dieses Mal keinen Menschen sondern eine Maschine: Deep Junior.

Übersetzt von Stefan Löffler