WILLIAM STEINITZ:

FORSCHER, KÜNSTLER, SCHACHSPIELER

Der erste Weltmeister der Schachgeschichte gilt als Vater der modernen Positionslehre. Bei seinen Zeitgenossen stieß er mit seinen Auffassungen auf Unverständnis und Ablehnung. Erst durch Tarrasch und Lasker etablierten sich seine revolutionären Theorien, die bis heute Steinitz’ Ruhm begründen.

Von Johannes Fischer

Wilhelm Steinitz

„Zu Beginn meiner Karriere war ich selbst ein unbedingter Anhänger des alten Systems, und ich erinnere mich noch gut, dass ich mich bei meinem ersten Treffen mit Anderssen und Kolisch sehr abfällig über Paulsens Stil äußerte. Aber beide Meister verteidigten Paulsen mit Wärme gegen meine generelle Kritik und das ließ mich nachdenklich werden …. Ich erkannte allmählich, dass Genie im Schach mehr ist als mehr oder weniger brillante Schläge nachdem das ursprüngliche Gleichgewicht der Kräfte gestört worden ist…“ (William Steinitz, International Chess Magazine, 1891, S.207-208). Dieser Rückblick auf die Entwicklung seiner Theorien verrät viel über William Steinitz, den ersten Weltmeister der Schachgeschichte. Er kritisierte gerne, sich selbst ebenso wie andere, und ging einer zünftigen Auseinandersetzung auf dem Schachbrett und im Leben nie aus dem Wege. Er galt als streitbar und dickköpfig, begegnete anderen Spielern jedoch stets mit Respekt. Steinitz liebte das Schach, das er mit der Leidenschaft eines Künstlers spielte und mit der Objektivität eines Forschers untersuchte.

Geboren wird Steinitz am 14. Mai 1836 im jüdischen Ghetto Prags, der Josefstadt. Schach lernt er recht spät, mit 12 Jahren. Nach Ende der Schulzeit geht Steinitz nach Wien, um zu studieren, bricht aber das Studium nach einem Jahr ab. Er verbringt seine Zeit lieber in den Kaffeehäusern Wiens und spielt Schach um Geld. Sein spektakulärer Opferstil gefällt den reichen Schachliebhabern, die einen wichtigen Teil des Wiener Schachlebens ausmachen, und bringt Steinitz den Spitznamen „Österreichischer Morphy“ ein.

1862 reist Steinitz zu einem internationalen Turnier nach London und bleibt anschließend dort. Englisch lernt er in nur vier Wochen. Zwar behält er bis zu seinem Tode einen starken Akzent, aber seine journalistischen Arbeiten zeigen, wie gut er die Sprache beherrschte. Von 1873 bis 1882 leitet Steinitz die Schachspalte in The Field und bespricht aktuelle Partien und Ereignisse. Er macht diese Kolumne zu einem der wichtigsten Organe des Schachlebens in England. Ohnehin war dies eine produktive Zeit: Später nennt Steinitz 1872 – 73 als die Jahre, in der er die Grundlagen seiner Theorien entwickelte. Und die bedeuten nichts weniger als eine Revolution, ein neues Denken, in der Schachwelt. Steinitz betrachtete das Schach wissenschaftlich, analytisch. Damals glaubte man, spektakuläre Kombinationen und Angriffe würden dem Genie, der schöpferischen Eingebung des Meisters entspringen – wie in der Musik, der Malerei oder der Literatur. Steinitz erkannte, dass dies nicht so war. Nach enttäuschenden Ergebnissen in den Turnieren von Paris 1867 und Baden-Baden 1870 unterzog Steinitz sein eigenes Schach und das seiner Zeitgenossen einer kritischen Analyse. Er stellte fest, dass viele der „genialen“ Angriffe nur deshalb zum Sieg führten, weil der Gegner sich schlecht verteidigt hatte. Zwangsläufig tauchte die Frage auf, wann ein Angriff gerechtfertigt war und Aussicht auf Erfolg hatte. Steinitz‘ Antwort lautete, dass ein Angriff nur dann eine Berechtigung hat, wenn das ursprüngliche Gleichgewicht der Stellung gestört worden ist und eine Seite über ein beträchtliches Übergewicht verfügt. Gestört werden kann das Gleichgewicht der Stellung aber nur durch einen Fehler einer Seite – wenn beide Parteien korrekt spielen, bleibt die Stellung ausgeglichen, alle Angriffe wären verfrüht und müssten bei korrekter Verteidigung zum Verlust führen.

Eine gänzlich neue Sicht auf die Dinge. Anstatt sich am Rausch der eigenen Kreativität zu begeistern und die materiellen Gesetze des Schachs durch brillante Opfer außer Kraft zu setzen, sollte man sich jetzt dem Diktat der Stellung beugen und wie ein Krämer kleine Vorteile ansammeln, die sich dann am Ende zu einer Kombination verdichten könnten. Statt großem optimistischem Angriffsschwung pessimistisches Beharren auf Korrektheit. Keine romantischen Opfer mehr, keine Suche nach der blauen Blume der wunderbaren Kombination, sondern nüchterne Technik, die kleinlich Schwäche um Schwäche anhäuft, um dann im Endspiel zu gewinnen. Kein Wunder, dass Steinitz‘ Theorien auf Unverständnis und Ablehnung stießen. Er war in die Defensive geraten. Als Theoretiker und auf dem Schachbrett. Denn Steinitz praktizierte, was er predigte. Vom österreichischen Morphy war nicht mehr viel zu sehen und mit dem Eifer des Entdeckers schoss Steinitz gelegentlich über das Ziel hinaus und übertrieb es mit der Defensive. Um ja keine Bauernschwächen zu gestatten, verrenkten sich seine Figuren dann auf der Grundreihe.

Aber Steinitz‘ Ergebnisse in den Jahren 72-73 sprachen für seine Theorien. Er gewann sowohl in London 1872 als auch in Wien 1873, wo er 19 Partien hintereinander nicht ein einziges Remis abgab. In den gleichen Jahren schlug er Blackburne und Zukertort in Wettkämpfen vernichtend und etablierte sich als bester Spieler der Welt. Aber mit Beginn seiner journalistischen Arbeit zog sich Steinitz vom Turnierschach zurück.

Sein scharfer Stil kam nicht immer gut an. Neider und Feinde, allen voran der Publizist Leopold Hoffer, machten sich über Steinitz lustig, karikierten seinen Akzent, und griffen ihn mit antisemitischem und fremdenfeindlichen Einschlag scharf an. 1882 verließ Steinitz England und emigrierte in die USA. 1888 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Später meinte er: „Lieber in den USA sterben, als in England leben.“ In den Vereinigten Staaten spielte er wieder viel und gab ab 1885 das International Chess Magazine heraus. Hier und in seinem 1890 erschienenen Buch The Modern Chess Instructor formulierte Steinitz seine Theorien.

1886 feiert Steinitz seinen wichtigsten Erfolg. Nach zähen Verhandlungen kam es endlich zum Wettkampf gegen Johannes Hermann Zukertort, dem größten Rivalen um den Titel der Nummer Eins in der Welt – es war der erste offizielle Weltmeisterschaftkampf der Schachgeschichte. Gespielt wurde auf zehn Gewinnpartien, Remis zählten nicht und der Sieger sollte 2.000 $ erhalten, nach heutigem Wert nicht ganz 40.000 $. Steinitz gewann 10 zu 5 bei 5 Remis. Nach erfolgreicher Titelverteidigung gegen Michail Tschigorin 1889 und Isidor Gunsberg 1890 verlor Steinitz seinen Titel 1894 schließlich an Lasker. Mit diesem Verlust begann Steinitz‘ Abstieg. Den Rückkampf gegen Lasker 1896 / 97 verlor er vernichtend mit 12,5:4,5. Steinitz begann an Depressionen zu leiden und starb am 12. August 1900 verbittert und arm in den USA.

Aber seine Theorien setzten sich durch. Lasker, sein Nachfolger auf dem Weltmeisterthron, popularisierte sie in seinen Schriften und Vorträgen und Dr. Tarrasch präsentierte sie didaktisch verkürzt und vereinfacht einem breiten Schachpublikum.

Und heute? Steinitz‘ Ruhm ist so groß und er selbst so lange tot, dass er längst zur Ikone erstarrt ist. Seine einst revolutionären Theorien sind zum Gemeinplatz geworden und werden bereits Anfängern beigebracht. Steinitz gilt als Vater der modernen Positionslehre und als Verteidigungskünstler, aber seine bekanntesten Siege sind die immer wieder veröffentlichten Opferangriffe gegen Mongredien 1862 und 1863 und natürlich der phantastische Sieg gegen von Bardeleben in Hastings 1895.

Was sein Leben betrifft, so werden gerne Anekdoten über Steinitz kolportiert, wie die, dass er gegen Gott antreten und ihm sogar einen Bauern vorgeben wollte. Obwohl kein so legendär geistig verwirrtes Schachgenie wie Paul Morphy und Bobby Fischer dient der Lebensweg Steinitz‘ doch oft genug als Warnung vor den Folgen einer allzu verhängnisvollen Leidenschaft für das Spiel.

William STeinitz Chess Champion Cover

Kurt Landsberger,
William Steinitz,
Chess Champion,
McFarland 1993,
487 S., Paperback,
41,95 Euro.

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
The Steinitz Papers Cover

Kurt Landsberger (Hrsg.),
The Steinitz Papers,
McFarland 2002,
325 S., Paperback,
46,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Aber allmählich ändert sich das Bild, das von Steinitz gezeichnet wird. Das ist vor allem das Verdienst Kurt Landsbergers, einem Nachkommen und entfernten Verwandten des Weltmeisters. In seiner 1993 veröffentlichten Biographie William Steinitz, Chess Champion, auf der die obigen Angaben beruhen, zeichnet er die Laufbahn und das Leben von Steinitz nach. Landsberger ist kein Schachspieler und ironischerweise macht dies seine Biographie besonders lesenswert. Er konzentriert sich auf das Leben von Steinitz, auf seine Zeit, all das, was beim Nacherzählen von Turniererfolgen, Niederlagen und Schachtheorie meist ignoriert wird. Nach der Biographie hat Landsberger vor kurzem The Steinitz Papers herausgebracht, eine Sammlung von Briefen und Dokumenten aus dem Leben seines Vorfahren. Wie Landsberger schreibt, wirkt Steinitz als Mensch und Denker ausgesprochen „modern“. Nicht nur durch seine Theorien im Schach, sondern auch durch sein Eintreten für Frauenrechte, sein Glaube an den Nutzen regelmässigen Sports und die Vorzüge eines Lebens als Vegetarier sowie sein Vertrauen in alternative Heilmethoden wie die Wasserkuren von Kneipp.

ChessBase Monographie Wilhelm Steinitz

Thorsten Heedt,
William Steinitz –
Der erste Schachweltmeister,
Hamburg: ChessBase GmbH, 2003, CD,
24,99 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Auch bei ChessBase ist vor kurzem eine von Thorsten Heedt verfasste CD erschienen, die sich William Steinitz widmet. Sie bietet einen kurzen biografischen Abriss, seine sämtlichen bekannten Partien und eine Trainingsdatenbank mit ausgewählten Stellungen aus Steinitz-Partien. Vor allem die Bücher Landsbergers zeigen Steinitz als vielschichtigen Menschen und als faszinierenden Künstler und Forscher, dessen selbst gewähltes Gebiet das Schach war.