K(OHLD)AMPF AN ACHT BRETTERN

Mit dem Rücken zur Magenwand in pittoresken Kantinen Abwehrschlachten schlagen.

Von Ulrich Stock

Teller mit Kohl

Eben komme ich vom Betriebsschach heim, das ist in Hamburg so eine dem üblichen Schachbetrieb parallele Liga, in der achtköpfige Firmenmannschaften gegeneinander antreten. Hamburg-Mannheimer, Unilever, Deutscher Ring, Finanzbehörde, Gerichte, Gruner + Jahr und so weiter. Die Partien werden DWZ-mäßig nicht ausgewertet, die Chose könnte sich also etwas unbeschwerter abspielen, es geht ja um noch weniger als sonst schon. Aber natürlich wird auch hier gerungen, schwer geatmet, aufgestampft, erregt diskutiert mit hochrotem Kopf, das ganze Männer-haben-was-Wichtiges-zu-tun-Ding.

Ich ging heute frohgemut hin, weil ich dachte, vielleicht gerate ich wieder einmal richtig unter Druck und am Ende womöglich unter die Räder, und das wäre doch eine ideale Einstimmung auf das Verfassen meiner Kolumne, die ja der Defensive gewidmet sein sollte.Also etwa so (dachte ich): Ich ans Brett, zu spät wie stets, wertvolle Viertelstunden sind verstrichen, uneinholbare Zeit, die einfach fehlt, Manko von Anfang an.

Dann mein Gegenüber ein veritabler Gegner (dachte ich): jugendlich, unrasiert, straff, Muskeln unterm Hemd, Flackern in den Augen, dieser irrlichternde Siegeswille, selbstbewusst bis kurz hinter die Grenze der Arroganz. Er würde mich grinsend ansehen beim Handgeben, seine Ungehobeltheit wäre mir der einzige Trost in der bevorstehenden Niederlage: So stillos bin ich nicht!

Dann hat er Weiß (dachte ich), spielt 1. d4 mit vertracktem Antiindisch, und ich dödel mit behinderten Läufern und randständigen Springern auf drei Reihen herum, bis kein Licht mehr zu sehen ist. Ein Kneten und Beten und das, was ihm an Spielstärke fehlt, bekommt er von mir hinzugewurschtelt.

Dann mache ich einmal mehr (dachte ich) Erst-mal-so-Züge: Ziehe erst mal dahin und dann mal sehen, und während ich noch mal sehe, feilt er schon an den Kombinatiönchen, die mich zerreiben werden. Und dann, als es für einen klitzekleinen Moment einmal doch gar nicht so schlecht aussieht, stell ich plötzlich was weg, oder überseh ein Matt und aus… dachte ich.

Aber es kam, wie es immer kommt: anders! Mein Gegner war ein rundliches, schwitzendes Gegenüber, das Gesicht groß, haarlos und schimmernd, als wäre es geölt.

Ein seit Jahren Bekannter, auch so einer, der einfach immer wieder hingeht, wohl weil er bei anderen Verrichtungen noch weniger Fortüne hat oder weil er einfach nicht mehr daran denkt, dass er auch eine Frau zum Essen oder ins Kino ausführen könnte, oder vielleicht ist er auch unglücklich verheiratet und ihm fehlt die Kraft für eine kleine Affäre, was weiß ich. Geballtes Ungenügen schlug mir entgegen – und ich hatte Weiß!

Kein Gedanke mehr an Defensive: 1.e4, klare Ansage! Er erwiderte – ebenso hurraartig – 1…d5, holla, na, ja…

Übrigens ist hurraartig das irrste Wort bisher dieses Textes, oder wer hat schon die Buchstabenfolge rraar je in einem Text gesehen: rraar erinnert an das rrooarr der Comicstrips, wenn Motorräder Vollgas geben mit rotglühenden Auspüffen!

(Auspüffen! Jetzt dreht der Kolumnist auf und – ab!)

Wo war ich stehen geblieben in meiner Raserei? Ach so, Skandinavisch… ich mag das nicht. Es galt lang als schlecht, dieses Heraus- und Herumgeziehe mit der Dame, ein großer Hamburger Meister hat’s dann aber repopularisiert. Ist dann also doch wohl so schlecht nicht, was weiß ich. Schon nach einem Zugpaar gelange ich an das Ende klarer Vorstellungen. Wie man Skandinavisch effektiv bekämpft: Ich wüsste es gern, ich weiß es nicht.

Da beginnt genau genommen bereits die Sinnlosigkeit von Schach im Allgemeinen und von Betriebsschach im Besonderen. Ist mein Gegenüber an seinem Arbeitsplatz auch so ratlos wie ich jetzt auf 1…d5? Fühlt er sich ähnlich unsicher, wenn er Nahrung zubereitet, Weichen stellt, Policen berechnet, Computer programmiert oder was auch immer? Geht er tagsüber in seinem Job auf so dünnem Eis wie ich abends beim Schach?

Ich zog 2.Sc3. Das mögen Skandinavisch-Spieler nicht so, weil sie masochistisch veranlagt sind. Sie halten einen Happen hin, und man soll zuschnappen, und dann fahren sie mit der Tante aus der Garage und wollen gescheucht werden. Den Gefallen tu ich ihnen schon mal gar nicht.

Mein Pipapopapa zieht 2…dxe4, hey! Und ich hau das Ding weg, 3.Sxe4, und die echten Skandinavisch-Irren spielen jetzt 3…Dd5 mit der Hoffnung auf 4. Sc3, und dann feixen sie sich einen.

Und mein PPPPP, was macht er? 3…e5. Na, ich kenn die Theorie nicht, aber das scheint mir schon recht frohgemut, defensiv jedenfalls nicht, ich also 4.Lc4, rauf auf den Punkt f7, wie in der Schachgrundschule gelernt. Und nun, Leute, der Hammer: 4…Lf5. Was geht in seinem Schach-Ich vor? Will er es heute doch noch mal richtig lang raushängen lassen, Caro-Kann verbessern oder was? Ich, zack: 5.Df3.

Öh… da guckt er. Und legt noch eins nach: 5…Dd7. Und ich, wieder zack: 6.Sg5 – alles auf f7, und ein bißchen auf b7. Das ist mehr als hurraartig, das ist schon hurraamtlich!

6…e4 fiel ihm noch ein, die Diagonale verstopfen, ich 7.Db3, mal von links beleuchten, wieder b7 und f7. Nun deckt er den wundesten Punkt: 7…Sh6, ich rraam: 8.Dxb7, und nun er, will den Turm retten, 8…Dc6, und nun ich, ping, 9.Lb5 und – Feierabend in dieser Betriebsschachpartie.

Neun Züge! Aber was ist das für ein Triumph – wenn einer einfach nur rumzieht und sich nichts dabei denkt? Ist das Niveau nicht erschütternd? Wenn’s keine Verteidigung gibt, zählt auch der Angriff nicht.

Im Schach können sogar die Siege vertane Zeit sein. Soll ich meinen Enkeln später das zeigen: meine kürzeste Betriebsschachpartie 2003? Eher werde ich ihnen von den Kantinen erzählen: Das Schöne an diesem Sekundärschach sind die Arenen der gastgebenden Betriebskampfgruppen. Besser als was gespielt wird, ist wo gespielt wird. Man lernt die große Stadt aus anderer Sicht kennen, von Räumen aus, die der Öffentlichkeit sonst nicht zugänglich sind.

Meine Lieblingskantine ist die des Deutschen Hydrographischen Institutes: thronend über dem Hafen, grandioses Elb- und Schiffspanorama. Wer hier mittags isst oder abends Schach spielt, hat die Welt vor Augen!

Auch nicht schlecht ist die Kantine der Baubehörde, ganz hoch oben über den Dächern der Innenstadt. Das Licht der untergehenden Sonne fällt horizontal über die Tische, und vor den Fenstern mehr Türme als auf den Brettern.

Zu essen gibt’s beim Betriebsschach nur selten etwas; wenn abends die Spieler kommen, ruht der Kantinenbetrieb. Betriebsschach ist somit eine auch in dieser Hinsicht brotlose Kunst. Wer sich ihr hingibt, ist ein Arbeitnehmer in kompletter Defensive. Er muss sich gegen acht sogar noch seines Hungers erwehren.