KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

OPTIMISMUS UND SCHACHLEIDENSCHAFT:

FRANK J. MARSHALL ZUM 125. GEBURTSTAG

Von FM Johannes Fischer

Soltis Marshall Cover

(Die folgenden Angaben beruhen vor allem auf Andy Soltis‘ Marshall-Biographie „Frank Marshall: United States Chess Champion“, New York: McFarland 1994. (Die Abb. zeigt das Cover der Ausgabe von 2013) Auch die Bilder stammen aus Soltis‘ Buch.)

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)
Frank MarshallFrank J. Marshall um ca. 1925

Frank Marshall hätte seinen Geburtstag vermutlich am Schachbrett gefeiert. Denn der am 10. August 1877 geborene Amerikaner widmete sein ganzes Leben dem Schach. Gelernt hatte er die Regeln als zehnjähriger von seinem Vater und bald war seine Leidenschaft für das Spiel grenzenlos. Marshall schreibt später: „Schach begann mein ganzes Leben zu absorbieren. Mein Kopf war voll davon, von morgens bis abends – auch in meinen Träumen spielte ich Schach. Allmählich verdrängte es alle anderen Interessen.“

Er wurde rasch sehr gut. Wie er das gemacht hat, verriet er jedoch nicht. Er selbst beschrieb seine Schachkarriere einmal mit den folgenden knappen Angaben: „Schach im Alter von 10 Jahren gelernt. Mit 15 Gewinn der Meisterschaft des Schachklubs von Montreal. Im Alter von 22 Gewinn der Meisterschaften des Manhattan und Brooklyn Schachklubs.“

Vielleicht war die Schachleidenschaft schuld an seinen mittelmäßigen schulischen Leistungen. Anders als viele seiner Großmeisterkollegen, die wie Lasker oder Tarrasch intellektuell vielseitig begabt waren, konzentrierte sich Marshalls Talent auf das Schachspiel. Arnold Denker sagt über ihn: „Er war weder brillant noch besonders gebildet, aber ein sehr anständiger Kerl.“ Außerdem war Marshall mit Selbstvertrauen, Optimismus und Unbefangenheit gesegnet. Und so machte er nach Ende der Schulzeit seine Leidenschaft zum Beruf und versuchte sein Glück als Schachspieler. Das führte ihn unausweichlich nach Europa.

DER WEG IN DIE WELTSPITZE

1899 schickt ihn der Manhattan und Brooklyn Schachklub zum großen Londoner Turnier. Allerdings darf der Amerikaner nicht im doppelrundigen Meisterturnier starten, sondern muss mit der B-Gruppe vorlieb nehmen. Im Meisterturnier feiert der Weltmeister Emanuel Lasker einen der größten Erfolge seiner Laufbahn. Nach schwachem Beginn gewinnt er schließlich mit großem Vorsprung und unterstreicht seine Vorrangstellung in der Schachwelt. Auch Marshall gewinnt sein Turnier und stößt damit in den Kreis der erweiterten Weltspitze vor, ohne jedoch sonderlich großes Aufsehen zu erregen.

Das tat er dann ein Jahr später in Paris. Beim dortigen Meisterturnier wird Marshall zusammen mit Pillsbury geteilter Zweiter hinter Lasker, gegen den Marshall aber gewinnen kann. Von nun an und für die nächsten drei Jahrzehnte zählt Marshall zu den besten Spielern der Welt.

RÜCKSCHLÄGE UND RISKANTES SPIEL

Ganz an die Spitze brachte er es jedoch nie. Drei vernichtende Wettkampfniederlagen gegen Tarrasch (Nürnberg 1905; Marshall verliert 1:8 bei acht Remispartien), Lasker (USA 1907; Marshall verliert 0:8 bei sieben Remispartien) und Capablanca (New York 1909; Marshall verliert 1:8 bei 14 Remispartien) machten deutlich, dass Marshall nicht ganz das Zeug zum Weltmeister hatte. Zu schwankend waren seine Leistungen, zu unausgeglichen seine Resultate. Vielleicht war es seine Einstellung, die zu diesen verheerenden Wettkampfergebnissen führte. Marshall war ein optimistischer und furchtloser Angriffsspieler, dessen Eröffnungsrepertoire jede Menge gewagte Gambits enthielt. Das bekannteste ist der Marshall-Angriff im Spanier. Die berühmt gewordene Geburtsstunde dieser Variante ist symptomatisch für Marshalls Schachkarriere. Lange hatte Marshall gewartet, um Capablanca mit seiner gefährlichen Neuerung überraschen zu können. Aber als sich die Gelegenheit endlich ergab, blieb der Kubaner ruhig und wehrte Marshalls Angriff mit einer Reihe präziser Züge ab. Diese berühmt gewordene Partie gilt als Musterbeispiel für die Verteidigung gegen allzu stürmische, positionell zweifelhafte Opferangriffe.

Marshall glaubte an sich und seine Chancen und es gelang ihm, in beinahe jeder Stellung dynamische Möglichkeiten aufspüren. Das brachte ihm den Ruf eines „Schwindlers“ ein. Und es stimmte: durch seinen Sinn für Dynamik und seine Kampfkraft gelang es Marshall oft, scheinbar aussichtslose Stellungen noch zu retten.

Auch im Endspiel war er stark. Aber er hatte Schwierigkeiten, in entscheidenden Momenten Kräfte zu sparen, ab und an ein professionelles Remis einzuschieben oder auch nur zu versuchen, die Partie von Beginn an im Gleichgewicht zu halten. Oft warf Marshall einem Verlust noch einen zweiten hinterher. Am Anfang seiner internationalen Karriere schrieb er einem Freund einmal: „Wann werde ich lernen, dass ein Remis mehr zählt als ein Verlust?“

Wenn er in Form war, konnte Marshall den besten Spielern der Welt Paroli bieten und stark besetzte Turniere mit großem Vorsprung gewinnen. So triumphierte er 1904 in Cambridge Springs, einem Turnier, bei dem fast die gesamte damalige Weltelite teilnahm, mit dem unglaublichen Resultat von 11 Siegen und 4 Remis. Aber solche Erfolge blieben eine Ausnahme. Denn trotz vieler Turniersiege, die Marshall im Laufe seiner Karriere errang, landete er in großen internationalen Wettbewerben trotz zahlreicher guter Platzierungen meist hinter Lasker, Capablanca oder Aljechin.

GLÜCK IM SPIEL, GLÜCK IN DER LIEBE

1904 war auch aus einem anderen Grund ein gutes Jahr für den amerikanischen Champion: er heiratete die damals 17-jährige Carrie Krauss nach einer kurzen, stürmischen Zeit der Brautwerbung. Wahrscheinlich Marshalls bester Zug im Leben. Die beiden blieben bis zu Marshalls Tod ein Paar und Carrie erwies sich als ein Segen für den hoffnungslos unpraktischen Schachspieler, von dem erzählt wird, das er nicht in der Lage war, die einfachsten Dinge des Alltags in den Griff zu bekommen. Bald organisierte Carrie Marshalls ganzes Leben: sie kümmerte sich um Sohn Frankie, machte den Haushalt, bezahlte Marshalls Rechnungen, knüpfte Kontakte zu potenziellen Sponsoren, traf Verabredungen für ihn und erledigte seine Korrespondenz. Ja, angeblich konnte sie Marshalls Unterschrift so gut imitieren, dass sogar seine Freunde getäuscht wurden.

Frank Marshall mit FrauFrank und Carrie Marshall am Strand von Atlantic City

 

THE AMATEUR’S BEST FRIEND

Sie war der Motor hinter Marshalls ambitionierten Schachprojekten. Mit zunehmendem Alter wollte und konnte sich Marshall nicht mehr darauf verlassen, in Turnieren genügend Preisgelder zu gewinnen und suchte nach neuen Erwerbsquellen. Dazu kultivierte er seinen Ruf als „The Amateur’s Best Friend“. Im Sommer besuchte er beliebte Badeorte in den USA und spielte Schach oder Dame gegen jeden, der gegen ihn antreten wollte. Er suchte den Kontakt zu reichen Hobbyschachspielern, um Partien mit ihnen zu spielen oder Unterricht zu erteilen. Seine auffällige Erscheinung – er war knapp zwei Meter groß, hatte rötliches Haar und ein markantes Gesicht – und sein offenes Wesen waren dabei zweifellos von Vorteil. Er behandelte schwächere Spieler nie herablassend und war, wie die Times in ihrem Nachruf feststellte, bereit „unabhängig von der Stärke mit jedem Schachspieler zu analysieren“.

Kurz nach Ende des ersten Weltkrieges verfiel Marshall, bzw. seine Frau, auf die Idee, den Kontakt zu den wohlhabenden Hobbyspielern zu systematisieren und einen Schachklub zu gründen, der seinen Namen trug. Sponsoren und Mäzene leisteten einen festen Beitrag und erhielten dafür die Möglichkeit zu regelmäßigem Kontakt mit dem Champion. Der Marshall Chess Club in New York existiert heute noch und bildet seit seiner Gründung einen festen Bestandteil amerikanischen Schachlebens.

Grundlage all dessen war ein guter Ruf. Marshalls Name sollte einem breitem Publikum ein Begriff sein. Als ein geeignetes Mittel zur PR erwiesen sich dabei spektakuläre Simultanvorstellungen und gezielt stellte Marshall immer neue Rekorde im Simultanspiel auf. Am 21. März 1916 spielte er unter den Augen der aufmerksamen Presse und des damaligen amerikanischen Vizepräsidenten als erster Schachgroßmeister gegen mehr als einhundert Gegner gleichzeitig. 1922 trat er sogar gegen 155 Gegner an. Er gewann 126 Partien, spielte 21 Remis und verlor acht.

Marshall trat auch als Autor auf und publizierte eine Reihe von Schachbüchern. Wie viel von diesen Büchern er selbst geschrieben hat, ist ungewiss. Marshall war kein Mann des Wortes und handschriftliche Aufzeichnungen von ihm verraten starke orthographische Schwächen. Wahrscheinlich lieferte Marshall mündliche oder schriftliche Notizen, die dann von einem Ghostwriter ins Reine geschrieben wurden. Bei Marshalls berühmtestem Werk „My Fifty Years in Chess“ war dies niemand anderes als der bekannte Vielschreiber Fred Reinfeld. „In einer Woche“, prahlte Reinfeld einmal Freunden gegenüber, „habe er das Buch geschrieben“.

DAS ENDE DER INTERNATIONALEN KARRIERE

Das Karlsbader Turnier 1929 läutete das Ende von Marshalls internationaler Karriere ein. Mit einem geteilten 18. Platz schnitt er verheerend schlecht ab und musste feststellen, dass er nicht mehr länger zur Spitze im Weltschach gehörte. Allerdings erwiesen sich seine Erfahrung, sein Enthusiasmus und sein Schachverständnis als Segen für die amerikanischen Olympiamannschaften. Mit Marshall als Kapitän und Berater gewannen die Amerikaner in Prag 1931, in Folkestone 1933 und in Warschau 1935 drei Mal Gold in Folge.

Marshalls Tod kam unerwartet und plötzlich. Er erlag am 9. November 1944 auf offener Straße einem Herzanfall. Nach dem Tode seiner großen Rivalen Lasker (1941) und Capablanca (1942) starb damit ein weiterer Epigone der Ära des Schachs vor dem Zweiten Weltkriegs. Mit dem Tode von Alexander Aljechin 1946 ging diese Epoche endgültig zu Ende.

ZWEI DAMENOPFER ZUM GEBURTSTAG

Die folgende Partie zeigt Marshalls dynamisches Angriffsspiel. Sein Gegner war David Janowski, ein Dauerrivale Marshalls. Insgesamt trugen Marshall und Janowski vier Wettkämpfe miteinander aus, von denen der Amerikaner drei gewann und einen verlor. Janowski war nicht das, was man einen guten Verlierer nennt. Seine Reaktionen nach verlorenen Partien und Wettkämpfen waren dabei allerdings durchaus originell. So forderte er Marshall nach ihrem ersten Wettkampf 1905, den Marshall mit 8 zu 5 bei vier Remis für sich entscheiden konnte, mit den folgenden Worten zu einem Rückkampf auf: „Meiner Ansicht nach gibt das Ergebnis des Wettkampfs unsere Fähigkeiten in keiner Weise wieder. Im Gegenteil, wenn man bedenkt, dass ich in der Mehrzahl der Partien entweder ein Gewinn oder ein Remis ausgelassen habe, kommt man zu der Überzeugung, dass ich den Wettkampf ohne Schwierigkeiten hätte gewinnen sollen. Deshalb habe ich die Ehre, Sie zu einem Revanchewettkampf zu folgenden Bedingungen herauszufordern: Sieger ist, wer 10 Partien gewinnt, Remis werden nicht gezählt. Ich gebe Ihnen vier Punkte vor, das heißt, meine ersten vier Siege zählen nicht….“.

Marshall war kein Spielverderber und trat trotz dieser beleidigenden Herausforderung weiterhin gerne gegen Janowski an. Wie die folgende Partie zeigt, brauchte er dabei wirklich keine Vorgabe.

JANOWSKI – MARSHALL
3. Wettkampfpartie 1912

1.e4 e5 2.Sf3 Sf6 3.Sxe5 d6 4.Sf3 Sxe4 5.d4 d5 6.Ld3 Ld6 Marshalls Spezialvariante in der Russischen Verteidigung. 7.c4 Lb4+ 8.Kf1 0-0 9.cxd5 Dxd5 10.Dc2 Te8 11.Sc3 Sxc3 12.bxc3

Hierauf hatte sich Janowski verlassen. Der Bh7 und der Läufer auf b4 sind angegriffen. Aber die unsichere Königsstellung des Weißen bleibt nicht ungestraft. 12…Dxf3! Ein spektakuläres Damenopfer. Die Dame bleibt auf diesem Feld, bis sie geschlagen wird. 13.cxb4 Natürlich nicht 13.gxf3?? Lh3+ 14.Kg1 Te1+ 15.Lf1 Txf1# 13…Sc6 14.Lb2 Sxb4 15.Lxh7+ Kh8 16.gxf3 Lh3+ 17.Kg1 Sxc2 18.Lxc2 Te2 Das war die Idee des Schwarzen. Er gewinnt den geopferten Läufer zurück, wonach Weiß auf Verlust steht. Der König auf g1, der den Turm h1 abklemmt, macht seine Lage hoffnungslos. 19.Tc1

19…Tae8 Wenn nur noch wenige Figuren auf dem Brett sind, glaubt man oft nicht an Kombinationen. Computerprogramme entdecken recht schnell, dass Schwarz in dieser Stellung sofort gewinnen kann, wenn er 19…Txc2! spielt. Nach 20.Txc2 Te8 ist Weiß erstaunlich hilflos gegen das drohende Manöver Te6 nebst Tg6 matt. 20.Lc3 T8e3 Wie Marshall in seinen Notizen festhält, konnte er wieder schneller gewinnen: 20…Txc2 21.Txc2 Te6. 21.Lb4 Txf3 22.Ld1 Tf6 Schließlich entkommt Weiß seinem Schicksal doch nicht. Das Matt ist nicht mehr abzuwenden. Weiß gab auf.

Und zum Schluss noch Marshalls berühmtester Zug, der zugleich einer der berühmtesten Züge der Schachgeschichte ist.

LEVITSKY – MARSHALL
Breslau, 1912

Schwarz hat einen Springer mehr, aber Weiß könnte noch auf Schwindelchancen hoffen. Mit welchem eleganten Zug entschied Marshall die Partie?

Antwort: Mit 23…Dg3!! Weiß gab auf.

Nach 24.hxg3 wird er mit 24…Se2 matt gesetzt, nach 24.fxg3 folgt Se2+ 25.Kh1 Txf1# und nach 24.Dxg3 Se2+ 25.Kh1 Sxg3+ 26.Kg1 Sxf1 ergibt sich ein klar verlorenes Endspiel für Weiß.

Partien und Züge wie diese sind wirklich ein Grund zum Feiern.