KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

VORBILDLICHES ERÖFFNUNGSBUCH

Nimzoindische Mittelspielstellungen lernen

Von IM Erik Zude

Stategic Nimzo-Indian Cover

Ivan Sokolov
The Strategic Nimzo-Indian
Volume I: A Complete Guide to the Rubinstein Variation
411 Seiten, Paperback,
New In Chess 2012,
27,95 EUR

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Der erfahrene Top-GM Ivan Sokolow ist zum einen bekannt dafür, seine bevorzugten Eröffnungsvarianten gelegentlich ein wenig abseits der theoretischen Hauptlinien zu suchen, z.B. in seinem viel gelobten The Ruy Lopez Revisited.

Ivan Sokolow wendet diese Varianten in seiner eigenen Praxis an, auch gegen offenbar gut vorbereitete Spitzenspieler. Zum anderen weiß er aber auch, worauf es beim Eröffnungsstudium vor allem ankommt: Das gründliche Verständnis der zugrundeliegenden Mittelspielstrukturen. Diesem Aspekt widmet er in seinen Büchern große Aufmerksamkeit, eines handelt sogar ausschließlich davon: Winning Chess Middlegames, New In Chess, 1. Auflage 2010.

Doch heute soll es um sein aktuelles Eröffnungsbuch zum Nimzoinder mit 4.e3 gehen. Beileibe keine „Nebenvariante“, sondern neben 4.Dc2 die Hauptvariante, immergrün, auch wenn 4.e3 in den letzten Jahrzehnten deutlich im Schatten von 4.Dc2 stand, das u. a. wegen Garri Kasparow seit den 80er Jahren zu großer Beliebtheit gelangte. Dieses System wird, voraussichtlich im nächsten Jahr, Thema eines weiteren Bandes von Ivan Sokolow sein.

4.e3 war in den 50er Jahren sehr populär und wurde seitdem von vielen Weltklassespielern bevorzugt, allen voran Michael Botwinnik, aber auch Svetozar Gligoric und Lajos Portisch. In den letzten Jahren wird es von den Spitzenspielern wieder häufiger eingesetzt. Neben dem Buchator sind u.a. Aronian, Gelfand, Lautier, V. Milov und Alexandrow prominente Vorreiter.

Weiß macht zunächst natürliche Entwicklungszüge und möchte später mit e3-e4 Raum gewinnen, ohne die Schwächung seiner Bauernstruktur mittels …Lxc3, bxc3 zu verhindern. Schwarz bleibt oft nichts anderes übrig, als den Läufer gegen den Springer zu tauschen, was zu spannenden Ungleichgewichten führt, häufig zu weißem Raumvorteil plus Läuferpaar als Ersatz für die schlechtere Bauernstruktur. Es ergeben sich zahlreiche Standard-Strukturen, von den typisch Nimzoindischen Formationen mit einem weißen Doppelbauern, über die klassischen Isolani-Stellungen bis hin zur Karlsbader Struktur mit dem von Botwtinnik gerne angewendeten Aufbau Ld3, Sge2, 0-0 nebst f2-f3 und e3-e4.

Sokolow macht keinen Hehl daraus, dass seine Sympathien bei Weiß liegen, gibt sich aber alle erdenkliche Mühe, stets objektiv zu bleiben und alle wichtigen Pläne für beide Seiten aufzuzeigen, sodass der Band gut als Referenzwerk geeignet ist. Es werden alle zentralen Varianten und Standardstellungen untersucht, wobei Sokolow bewusst von einem enzyklopädischen Ansatz Abstand nimmt. Stets alle einigermaßen vernünftige Züge zu analysieren, alle Zugumstellungen zu berücksichtigen und gleichzeitig die Stellungsbilder und Ideen zu erklären wäre innerhalb nur eines Bandes auch nicht machbar, zu zahlreich sind die Möglichkeiten. So muss man es auch als in der Natur der Sache liegend akzeptieren, dass die nach Redaktionsschluss in der 11. WM-Partie in Moskau 2012 von Weltmeister Anand gespielte Zugfolge 4…0-0 5.Ld3 d5 6.Sf3 c5 7.0-0 dxc4 8.Lxc4 Ld7!? im Buch nicht erwähnt wird. Die „Bronstein-Variante“ ist ziemlich selten und kam in der Praxis der Top-Spieler in den letzten Jahren bis auf wenige Ausnahmen nicht vor. Wer Sokolows Buch studiert, wird aber auch mit solchen Überraschungen gut am Brett zurecht kommen; die zur Auswahl stehenden Mittelspielstrukturen werden von ihm ausführlich analysiert und erklärt.

Das Material ist sehr gut strukturiert, der Autor hat die verschiedenen Systeme zweckmäßig in Kapitel geordnet, sodass der Leser leicht eine gewünschte Aufstellung findet, z.B. aus weißer Sicht die Systeme mit Sge2; bestimmte Zugfolgen können mit dem relativ groben Variantenverzeichnis im Anhang gesucht werden. Wer einem Vorbild folgen möchte, verwendet das ausführliche Spielerverzeichnis. Das Material ist in Form von Variantenbäumen strukturiert, die zitierten Partien oder eigenen Analysen werden mit einer Stellungsbewertung tief im Mittelspiel verlassen. Sokolow erläutert die Bedeutung einer Variante oft schon in einer Einleitung zu Beginn des Kapitels, spätestens am Kapitelende findet sich eine ausführliche Bewertung zu den weißen Chancen, einen Eröffnungsvorteil zu erzielen. Anders als so mancher Autor bekennt Sokolow hier Farbe und formuliert sehr klar, welches System viel verspricht und welches nicht.

Noch wertvoller sind für die Leser die teilweise sehr ausführlichen Erklärungen wichtiger Mittelspielstellungen. Der Großmeister formuliert auf einer halben Buchseite oder mehr seine Sicht der Position, welches die besten Pläne sind, welche Funktionen die Figuren haben und ähnliches. Zusammen mit den sehr tiefen und ideenreichen Analysen, in denen Sokolow viele eigene Ideen präsentiert, macht dies den großen Wert des Bandes aus. Ein erfahrener Top-GM erklärt sehr konkret sein über drei Jahrzehnte hinweg gewachsenes Verständnis und Eröffnungsrepertoire.

Der Band ist sehr übersichtlich editiert. Wer durch die gelegentlich schwer lesbaren und mit zahlreichen Klammern unübersichtlichen Surveys im New In Chess Yearbook des gleichen Verlages misstrauisch gestimmt ist, kann beruhigt aufatmen. Dort, wo es ins Variantendickicht geht, haben die Editoren mit Fettdruck, Einrückungen und Untervarianten für ein sehr gut lesbares Schriftbild gesorgt.

FAZIT

Für das Verständnis des Nimzoinders mit 4.e3 wird Sokolows Buch auf Jahre hinaus das Standardwerk bleiben. Eine ergiebige Ideen-Quelle für Weiß- und Schwarzspieler.

Auch Neulinge im Nimzoinder und Spieler, die einfach mal über den Tellerrand schauen wollen und wichtige typische Stellungsbilder besser verstehen möchten, kommen hier voll auf ihre Kosten.

Inhalt

009 Foreword

011 PART I – 4.e3 Various

131 PART II – 4…0-0 Minor Lines

221 PART III – The Main Line 4…0-0 5.Bd3 d5 6.Nf3

315 PART IV – 4…0-0 5.Bd3 d5 6.Nf3 c5 7.0-0 – The Immediate 7…dxc4 8.Bxc4

401 Index of Variations

405 Index of Players

411 Bibliography