KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

SCHACHKRIEG

Ein Fernsehbericht über den WM-Kampf in Reykjavik 1972

Von FM Johannes Fischer

Russians Versus Fischer Cover

Hrsg. D. Plisetzky, Sergej Voronkov
Russians vs. Fischer,
Moskau: Chess World 1994,
Hardcover, 396 S.

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)
Fischer World Champion! Cover

Max Euwe & Jan Timman,
Fischer World Champion!
Alkmaar: New In Chess, 2002,
Paperback, 159 S.

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma ChessBase zur Verfügung gestellt.)

Schach im Fernsehen kann sehr spannend sein. Passend zum Fischer-Schwerpunkt in KARL 2/02 beleuchtete der Kulturkanal ARTE am Mittwoch, den 23.10.02, unter dem Titel „Schachkrieg“ in einem Dokumentarfilm die politischen Aspekte des WM-Kampfes in Reykjavik 1972.

Konzentrieren sich solche Filme meist auf das exzentrische Wunderkind Bobby Fischer, rückte Regisseur Valéry Gaillard hier die Person Spasskis in den Vordergrund. Kernstück der Dokumentation war ein ausführliches Interview mit dem heute in Frankreich lebenden Ex-Weltmeister, der sich bislang selten öffentlich zu dem Geschehen in Reykjavik geäußert hatte.

Die im Kalten Krieg unvermeidlichen politischen Begleiterscheinungen des Wettkampfs brachten Spasski in eine schwierige Situation. Auf einmal repräsentierte er, der sich Zeit seines Lebens erfolgreich weigern konnte, Parteimitglied zu werden, die sowjetische Schach- und Kulturpolitik. Wie wichtig das Schach für die Sowjetunion war, zeigte der Film in einem kurzen Rückblick über den Aufstieg der Sowjetunion zur schachlichen Großmacht. In faszinierenden Aufnahmen konnte man alle sowjetischen WM-Vorgänger Spasskis noch einmal bewundern. Interviews mit hochrangigen Sowjet-Funktionären machten deutlich, wie das Schach staatlich gefördert wurde und Spieler wie Botwinnik und Tal zu Volkshelden avancierten. Diese Politik trug Früchte: Nach dem zweiten Weltkrieg dominierten die Sowjets das Weltschach unangefochten und trugen sämtlich WM-Kämpfe unter sich aus. Doch plötzlich bedrohte das Wunderkind Fischer diese Hegemonie und Spasski hatte das Schicksal die Aufgabe beschert, den Amerikaner zu stoppen.

RUSSIANS VS. FISCHER

Wie sehr die sowjetische Führung Fischers Schachtalent fürchtete, zeigen Dmitry Plisetzky und Sergey Voronkov in ihrem Buch Russians vs. Fischer, in dem sie bislang geheime Dokumente veröffentlichen, die demonstrieren, wie Fischers drohender Aufstieg zum Weltmeister zum Politikum wurde. Eine faszinierende Lektüre. Ehemals geheime Protokolle zeigen, wie rigoros der politische Apparat vorging und wie er z.B. gegen Taimanow nach dessen 0-6 Verlust im Wettkampf gegen Fischer drakonische Maßnahmen ergriff. (Siehe dazu auch das Interview mit Taimanow in KARL 2/02, S.26-29).

Zahlreiche Dokumente sind auch in schachlicher Hinsicht aufschlussreich. Denn führende Großmeister der Sowjetunion wie Tal, Keres, Smyslow, Petrosjan und Bondarewski wurden aufgefordert, genaue Analysen von Fischers Spielstil, seinen Stärken und Schwächen anzufertigen, die hier veröffentlicht sind. Auch Botwinniks ausführliches Spielerporträt von Fischer, das er einmal anlässlich der Vorbereitung auf einen möglichen Wettkampf gegen den Amerikaner erstellt hatte, findet man hier. Ebenso erhält man Einblick in die ausgefeilten Trainingspläne, die das Sportkomitee zur Vorbereitung auf die Wettkämpfe von Taimanow, Petrosjan und Spasski aufstellte, um nichts unversucht zu lassen, den Amerikaner zu besiegen.

In den Augen der Partei war Spasski dabei ein unsicherer Kantonist. So schrieb S. Pawlow, der Vorsitzende der Sowjetischen Sportföderation in einem vertraulichen Dossier über Spasski:

„Spasski ist 34 Jahre alt und eine Person, die auf diesem Feld [des Schachs] hochbegabt ist, und die in der Lage ist, ihre Ressourcen in den entscheidenden Momenten zu mobilisieren, um ihr Ziel zu erreichen. Er hat sein Potenzial noch besser zu werden, noch nicht ausgeschöpft…

Als Folge einer schweren Kindheit und Lücken in seiner Erziehung ist Spasski gelegentlich seinem eigenen Verhalten gegenüber unkritisch, gibt unreife Dinge von sich, verstößt gegen seine Trainingsdisziplin und ist nicht fleißig genug. Manche Leute hier und im Ausland versuchen diese Mängel noch zu verstärken und ihn zu Größenwahn anzustacheln, indem sie seine Ausnahmestellung als Weltmeister betonen und seine bereits ungesunde Söldnermentalität weiter anheizen.

Dieser Umstand hat es für das Sowjetische Sportkomitee notwendig gemacht, die Kontrolle über das Training des Weltmeisters zu verstärken und sorgfältig mit ihm zu arbeiten, was bislang unbedeutende Resultate gezeigt hat. Wir halten es für notwendig, in Zukunft öffentliche Organisationen in eine verstärkte Zusammenarbeit nach diesen Vorgaben einzubeziehen…“ (Russians vs. Fischer, S. 285)

DIE POLITK MISCHT SICH EIN

Was das bedeutete, berichtet der Dokumentarfilm: der KGB schaltete sich in die Wettkampfvorbereitung ein und verlangte von Spasski eine Siegesgarantie. Vernünftigen Argumenten schien diese Institution nicht zugänglich. Auf seine Antwort: „Wir sind nicht schlechter als Fischer und werden kämpfen“ kam die Entgegnung: „Du bist ein Sowjet. Du musst den Sieg garantieren“.

Spasski Fischer WM 1972 Cover

Spasski – Fischer, Rejkjavik 1972
(Archiv Lothar Schmid)

Außerdem stellte die politische Führung sein Team zusammen. Spasskis Trainer und Vertrauter Bondarewski, der ihn zum Weltmeistertitel geführt hatte, wurde gegen Krogius, Nei und Geller ausgetauscht. Geller kam zu diesen Ehren, weil er einer der wenigen sowjetischen Großmeister war, die ein positives Score gegen Fischer aufweisen konnten. Aber die Sache hatte einen Haken: zwei Mal, 1965 und 1968, war Geller als WM-Kandidat in Wettkämpfen gegen Spasski gescheitert. Keine gute Voraussetzung für eine harmonische Zusammenarbeit.

Auch die Amerikaner instrumentalisierten den Wettkampf für ihre politischen Interessen. Nachdem Fischer zur Eröffnungszeremonie in Reykjavik nicht erschienen war, schaltete sich der damalige amerikanische Außenminister Henry Kissinger ein. Er erklärte Fischer, es sei seine patriotische Pflicht zu spielen und zu siegen. Der Film zitiert Augenzeugen, die berichten, wie sie Fischer in New York dazu bringen wollten, nach Reykjavik zu fliegen und den Wettkampf zu beginnen, jedoch auf taube Ohren stießen. Aber nach dem Anruf Kissingers war Fischer wie verwandelt und hätte sich benommen wie „ein junger Soldat“, der unbedingt in den Kampf ziehen wollte.

Also flog Fischer nach Reyklavik. Aber wer geglaubt hatte, damit sei der Wettkampf gerettet, sah sich getäuscht. Die große Krise kam erst, nachdem Fischer aus Protest gegen die Fernsehkameras zur zweiten Partie nicht antrat und kampflos verlor. Das kostete ihn genau wie sein gesamtes Verhalten jede Menge Sympathien. Zugleich hatte er damit jeden moralischen Anspruch auf das Recht, um die Weltmeisterschaft zu spielen, verwirkt. Der sowjetische Schachverband witterte seine Chance und drängte Spasski, den Kampf abzubrechen, nach Moskau zurück zu kommen und den WM-Titel kampflos zu behalten. Doch Spasski verweigerte den Gehorsam und erklärte: „Wenn ich siege, dann nur auf dem Schachbrett.“

Eine mutige und menschlich bewundernswerte Haltung. Denn Spasski stand zwischen allen Fronten. Er musste sich zugleich seinem eigenen Verband entgegen stemmen und die immer neuen Launen und Forderungen Fischers ertragen. Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass der sowjetische Schachverband Spasski drängte, den Kampf abzubrechen, Fischer drohte, den Kampf abzubrechen und nur Spasski, dessen Weltmeistertitel und Sportlerkarriere in der UdSSR auf dem Spiel stand, weiterspielen wollte.

SPASSKIS VERHÄNGNISVOLLER FEHLER

Im Nachhinein bezeichnet Spasski die Situation vor der dritten Partie, die aus Schutz vor den Fernsehkameras in einem separaten Raum gespielt werden sollte, als entscheidende Phase des Wettkampfs:

„Als die Partie begann, entbrannte ein Streit zwischen dem Schiedsrichter Lothar Schmid und Bobby Fischer. Irgendwann sagte Fischer zu Schmid: ‚Halt’s Maul!‘ Genau in diesem Moment machte ich einen verhängnisvollen Fehler. Ich glaube sogar, dass ich in diesem Moment das Match verlor. Ich hätte unter solchen Bedingungen nicht weiter spielen dürfen. Als amtierender Weltmeister hätte ich sagen können: ‚Tut mir Leid, aber mir gefällt diese Atmosphäre nicht. Ich hatte versprochen, diese Partie zu spielen, doch jetzt gebe ich auf.‘ Dann hätte ich gehen sollen.
Damit hätte ich alle psychologischen Vorteile behalten, die ich zu diesem Zeitpunkt des Matches hatte. Fischer hätte sich in seiner sehr schwierigen psychischen Situation befunden. Statt dessen spielte ich weiter, ich hatte mein Wort gegeben. Und so verlor ich schließlich. Ich verlor beim 40. Zug, als das Remis schon offensichtlich war. Zum ersten Mal in meinem Leben verlor ich gegen Fischer. Es war, als hätte ich ihm eine Tür aufgemacht. Er spürte meine Schwäche. Ich hatte mich eigenhändig um meine Siegerstellung gebracht. …
Aus psychologischer Sicht war ich geliefert. Dennoch war ich bereit, bis zum letzten Atemzug gegen Fischer zu kämpfen. Ich war fest davon überzeugt, bis zum Schluss kämpfen zu können. Doch die Kräfte waren ungleich verteilt. Von diesem Moment an hatte er sich gefangen und sein Gehirn funktionierte wie ein Schweizer Uhrwerk.“ (Siehe dazu auch das Interview mit Lothar Schmid in KARL 2/02, S.32-35, vor allem S.34)

SPASSKI – FISCHER
Reykjavik 1972, 3. Partie des Wettkampfs

Dies war die Stellung vor dem vierzigsten Zug von Spasski. Nach 40.Ke1! c3 41.Dg5+ Lg6 42.De3 hat Schwarz, wie Timman ausführt, Probleme weiter zu kommen, da sein König zu exponiert steht. Aber in der Partie geschah: 40.Dd2 und nach 40…Db3 41.Dd4? Ld3+! gab Spasski auf. 41…Ld3+ war der Abgabezug und beide Seiten hatten genügend Zeit, um sich anzuschauen, wie Schwarz gewinnt, z.B.: 42.Ke1 (42.Kd2 Dc2+ 43.Ke1 Dxc1#; 42.Ke3 Dd1! 43.Db2 Df3+ 44.Kd4 De4+ 45.Kc3 De1+! … 46… De5#) 42…Dxb4+.

Auch Jan Timman sieht in seinem Buch über den Wettkampf Fischer: Worldchampion! (Rezension in KARL 2/02, S.57) die dritte Partie als entscheidend an. Er zitiert Donner und Langeweg, die meinten, Spasski hätte die dritte Partie kampflos aufgeben sollen, um die psychologische Initiative zu behalten. Natürlich ist so etwas leichter gesagt als getan – vor allem im Nachhinein. Da Spasski unbedingt spielen wollte, verpasste er diesen Moment, geriet in die Defensive und spielte die erste Hälfte des Matches verheerend schlecht. Als er nach der zehnten Partie wieder in Tritt kam, lag er bereits mit 3,5:6,5 beinahe unaufholbar zurück. Was danach kam, ist bekannt: Fischer gewann den Kampf und zeigte sich der Bürde des WM-Titels psychisch nicht gewachsen. Er tauchte unter, zog sich vom Turnierschach zurück und wurde zum Mythos.

Die Schlusseinstellung des Dokumentarfilms erlaubt einen Blick auf das rätselhafte Wesen und die Schachleidenschaft des Amerikaners. Während der Siegerehrung in Reykjavik wurde er zufällig von einer Überwachungskamera gefilmt, die zeigt, wie er bei einer Veranstaltung, in deren Mittelpunkt er steht, vollkommen in sich versunken und der Welt entrückt allein Partien auf seinem Taschenschach analysiert. Mit Fischer hatte in diesem Wettkampf das manische Genie triumphiert. Der gleichfalls geniale Schachspieler Spasski wurde dabei ein Opfer des politischen Drucks aus den eigenen Reihen, der Launen seines Gegners und seiner eigenen menschlichen Größe.