KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

OHNE TIEFGANG, ABER DAFÜR MIT LÜCKEN

Ein katalanischer Sprachkurs

Von FM JP Schmidt

Bologan Catalan Cover

Victor Bologan,
The Powerful Catalan:
A Complete Repertoire
for White,
New in Chess 2012

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Großmeister Victor Bologan aus Moldawien gehört nicht nur am Schachbrett, sondern auch in der Schreibstube (bzw. ihrem modernen Äquivalent, dem Aufnahmestudio) zu den Fleißigsten seiner Zunft. Als Spieler scheint Bologan seine Umtriebigkeit nicht schlecht zu bekommen, zählt er, obgleich seltener Gast in Eliteturnieren, doch seit vielen Jahren zur erweiterten Weltspitze (dass er an guten Tagen auf Augenhöhe mit den Allerbesten ist, bewies nicht zuletzt sein Turniersieg 2003 in Dortmund). Ob seine Vielschreiberei ähnliche gute Ergebnisse zeitigt, könnte nur eine ausführliche Gesamtschau seiner Werke ermitteln. The Powerful Catalan, obzwar optisch ansprechend in den katalanischen Nationalfarben eingebunden, ist jedenfalls ein Beleg für das Gegenteil. Zu deutlich merkt man dem Buch an, dass es nach der „modernen“ Methode erstellt wurde: Mit Hilfe einer Datenbank werden die einschlägigen Variantenbäume erstellt, die dann flugs noch mit Kommentaren und einigen knappen Erläuterungen versehen werden. Fertig ist das Eröffnungsbuch! Was vollkommen fehlt ist die gedankliche Synthese, der persönliche Zugriff, die Vermittlung der Ideen.

In der durchaus noch gehaltvollen Einführung verspricht Bologan dem Leser, ihm die „katalanische Schachsprache“ beizubringen. Was dann folgt, ist aber, um im Bilde zu bleiben, im Wesentlichen das sture Pauken von Vokabeln. Der Sprachschüler wird in ein schwer zu durchdringendes Variantendickicht geschickt, Hinweise zu strategischen Ideen, die als Karte oder Kompass dienen könnten, werden höchstens ansatzweise vermittelt. Gliederungspunkte wie „D21311“ flößen mehr Furcht als Vertrauen ein. Der trockene, mitunter oberlehrerhafte Stil tut sein Übriges.

Man würde bei Bologans Ansatz erwarten, dass jedenfalls in puncto Vollständigkeit keine Wünsche offen bleiben. Doch auch hier tut sich manche erstaunliche Lücke auf. So wird in der klassischen Hauptvariante nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0 dxc4 7.Dc2 mit keinem Wort auf das in jüngerer Zeit häufig und recht erfolgreich gespielte 7…b5 eingegangen. Heißt das, dass dieser aggressive Zug inzwischen widerlegt ist? Selbst wenn, würde man die Widerlegung doch gerne kennen. Auch eine andere Frage stellt sich in diesem Zusammenhang: Wenn Bologan nach 7…a6 sowieso 8.Dxc4 empfiehlt (anstatt mit 8.a4 den Vorstoß …b5 zu unterbinden), warum spielt er dann nicht 7.Da4, womit das Abspiel 7…b5 ausgeschaltet würde? Oder hat 7.Da4 andere Nachteile?

Fragen wie diese lenken den Blick auf ein generelles Manko von Bologans Vorgehensweise: Er erläutert kaum jemals die Gründe für die von ihm getroffene Variantenwahl, so etwa im oben genannten Beispiel die Bevorzugung von 8.Dxc4 gegenüber dem fast genau so häufig gespielten 8.a4. Natürlich ist es gerade in einem Repertoirebuch vollkommen legitim, die Darstellung auf bestimmte Abspiele zu beschränken. Aber auch dann sollte dem Leser wenigstens gesagt werden, was die Alternativen sind und warum sie aus Sicht des Autors weniger Erfolg versprechen (dies kann sowohl theoretische als auch rein praktische Gründe haben). Gerade an Stellen wie diesen wäre die ehrliche Einschätzung eines Weltklassegroßmeisters besonders wertvoll und würde den Unterschied ausmachen gegenüber der Darstellung eines zwar pädagogisch begabten, spielerisch aber deutlich schwächeren Autors. Bologan zieht es stattdessen vor, den Leser zu bevormunden.

Mehr Preisgabe von Insiderwissen wäre daneben z.B. auch im Abschnitt über die Tarrasch-Verteidigung erhellend gewesen. Dass diese überhaupt ausführlich untersucht wird, ist natürlich zu loben. Manch anderer Autor hätte sich hier mit dem formalen Argument aus der Affäre gezogen, dass es sich um eine andere Eröffnung handele. Aber natürlich muss ein Katalanischspieler auf die Tarrasch-Verteidigung vorbereitet sein, kann er ihr doch nicht ausweichen. Mit großem Erstaunen sieht man dann allerdings, dass Bologan das 2011 erschienene, mit zahlreichen neuen Analysen ausgestattete Buch von Aagard und Ntirlis zu dieser Eröffnung nicht nur mit keiner Zeile erwähnt, sondern auch auf die dortigen Abspiele überhaupt nicht eingeht. Kam das Buch zu spät für eine Berücksichtung? Das ist unwahrscheinlich, hat Bologan seine Arbeit doch ausweislich des Vorworts erst im Juni 2012 abgeschlossen. Da das Buch auch kein Verzeichnis der verwendeten Literatur enthält (stattdessen findet man zu seiner Überraschung ein höchst detailliertes Spielerregister), tappen wir letztlich im Dunkeln.

Indizien dafür, dass Bologan zumindest in einen stillschweigenden Dialog mit den genannten Autoren tritt, gibt es allerdings. So geht er dem von diesen extensiv analysierten Abspiel nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c5 4.cxd5 exd5 5.Sf3 Sc6 6.g3 Sf6 7.Lg2 Le7 8.0-0 0-0 9.Lg5 c4 10. Se5 Le6 11. b3 h6! (Aagard und Ntirlis) aus dem Weg, indem er 11. Sxc6 spielt. Abermals vermisst man freilich die Begründung. Und was noch schwerer wiegt: Nach 11…bxc6 12.b3 geht Bologan nicht auf 12…h6 ein, was nach 13.Lxf6 durch Zugumstellung doch zu der von Aagard und Ntirlis favorisierten Variante führen würde. Sollte Weiß daher besser 13.Lf4 spielen? Wir erfahren es nicht. Im Übrigen zeigt sich auch in diesem Kapitel wieder eine schwer zu erklärende Auslassung: Neben 9…c4 werden noch 9…cxd4 und 9…h6 untersucht. 9…Le6 wird dagegen nicht einmal erwähnt, obwohl es fast zehn Mal so häufig gespielt wird wie 9…h6.

Einen endgültigen Hinweis darauf, dass das Buch entweder lustlos geschrieben oder mit zu heißer Nadel gestrickt wurde (oder wahrscheinlicher: beides zugleich), liefert die kuriose Doppelanalyse ein- und derselben Position an zwei verschiedenen Stellen des Buches. Eine Schwierigkeit im Katalanen sind bekanntlich die vielen Möglichkeiten der Zugumstellung. Hinzu kommt, dass durch wechselseitige Tempoverluste eine identische Stellung oftmals durch eine verschiedene Anzahl von Zügen entstehen kann (z.B. indem Weiß Lc1(-d2)-f4 spielt und Schwarz Lf8(-b4)-e7). Dass ein Mann von Bologans Kaliber hierdurch einem Irrtum aufsitzen würde, ist dennoch kaum vorstellbar. Und doch: Schauen wir auf die Seiten 60 und 152, so finden wir exakt dieselbe Stellung, mit dem einzigen Unterschied, dass sie im ersten Fall nach zehn, im zweiten Fall nach neun Zügen erreicht wird (1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 Sf6 4.g3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0 c6 7.Dc2 b6 8.Tfd1 Sbd7 9.Lf4; im Diagramm auf Seite 60 wurden noch die genannten Läuferzüge einschoben). Eigentlich müsste der Autor hierüber erfreut sein, könnte er sich durch einen einfachen Verweis Arbeit und Platz sparen. Bologan hingegen erwähnt die Duplizität nicht nur mit keinem Wort, sondern bietet auch noch von einander abweichende Analysen an! Waren hier vielleicht am Ende sogar unterschiedliche Personen am Werk?

Die vorstehende Kritik mag manchem etwas kleinlich erscheinen. Und zuzugeben ist immerhin, dass Bologans Buch als Einführungs- und Nachschlagewerk durchaus seinen Nutzen hat. Doch ändert dies nichts daran, dass es die Erwartungen in vielerlei Hinsicht enttäuscht. Der Leser wird nach der Lektüre zwar einige Sätze in der „katalanischen Schachsprache“ sagen können, ihr Geist und ihre Grammatik werden ihm aber verborgen geblieben sein.