KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

LAUSIGER EINSTIEG IN DIE ÄLTESTE „MODERNE“ ERÖFFNUNG

Von Eric Rolle

Lakdawala The Alekhine Defence

Cyrus Lakdawala,
The Alekhine Defence –
Move by Move,
Everyman Chess 2014,
kartoniert, 464 S.,
24,95 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Die Aljechin-Verteidigung ist wohl die älteste Eröffnung, die dem modernen Spielstil nahe kommt. Wegen der Symmetrieabweichung schon im ersten Zug sowie dem damit verbundenen aktiven Verlust einiger Tempi wirkt 1.Sf6 skurril und spannend zugleich. Weiß hat verschiedene Möglichkeiten, das schwarze Spiel zu stören, doch auch Schwarz hat diverse Optionen – von ultrascharf bis positionell – seinem Spiel Sinn einzuhauchen. Einzig der in fast allen Varianten fehlende Raum zum Manövrieren kann bei fehlerhaftem schwarzem Spiel ein langes Leiden zur Folge haben. Doch wer auch mit Schwarz kein Remis klammern will, interessante Stellungen spielen möchte und dennoch nicht auf solide Positionen verzichten mag, dem ist die Aljechin Verteidigung eine willkommene Eröffnung fürs eigene Repertoire.

Cyrus Lakdawalas Eröffnungsbuch in der Move by Move-Reihe bespricht (fast) alle Varianten der Aljechin-Verteidigung und gibt auch einen geschichtlichen Überblick der Entwicklung der Verteidigung. Der IM hat selbst viele Partien damit gespielt, die häufig mit in seine Analysen einfließen.

Doch schon zu Beginn des Buches irritiert der Ton, den der Autor anschlägt. So fand ich in der Einleitung folgenden Satz völlig unpassend: „The aggressor overextends, retreats in disarray and bungles the war. If you don’t believe me, just ask Napoleon, Hitler and Bush how well their campaigns worked for them!“ Egal ob gut oder schlecht gemeint, aber diese Personen gehören allenfalls in Geschichts-, nicht aber in Schachbücher!

Ferner empfinde ich den flapsigen Schreibstil des Autors eher anstrengend als auflockernd. Auch wenn das Konzept in der Move by Move-Reihe eine Kombination aus Eröffnungs- und allgemeinem Lern- und Übungsbuch anstrebt, würde ich mir bei den Analysen mehr Fokus auf die zur Debatte stehenden Varianten wünschen. Indes sieht sich der Leser mit vielen langen Analysen später Mittelspiel- und Endspielstellungen konfrontiert, die nicht selten nach zuvor begangenen Fehlern entstanden sind, die keinerlei theoretischen Wert besitzen.

Nach all dieser Kritik nun auch Positives: Der Autor bespricht in 55 Partien nahezu alle Abspiele der Aljechin-Verteidigung. Neben der klassischen Hauptvariante (1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 d6 4.Sf3), der symmetrischen sowie asymmetrischen Abtauschvariante (1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 d6 4.c4 Sb6 5.exd6 exd6 sowie 5…cxd6, dem Vierbauernangriff (1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 d6 4.c4 Sb6 5.f4) und der Jagdvariante (1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.c4 Sb6 4.c5 Sd5) werden auch Nebenvarianten wie Westerinens Anti-Klassisch (1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 Sb6!?) sowie 3.Sc3 und 2.d3 untersucht.

Der klassische weiße Aufbau scheint meist grundsolide, doch es gibt Ausnahmen wie der folgende Partiebeginn, der mir auch Gelegenheit gibt, die Kommentare, Fragen und Antworten des Autors kritisch zu beleuchten:

NAVARA
SHORT
Wijk aan Zee 2009 (B-Turnier)

1.e4 Sf6 2.e5 Sd5 3.d4 d6 4.Sf3 dxe5 5.Sxe5 c6 6.Le2 Lf5 7.g4!?

Der Autor lässt sich kurz darüber aus, dass wir nicht immer unseren aggressiven Instinkten folgen sollten. Und wenn unser Gegner wie in obiger Variante spielt, gibt es nur eins: „Zerstöre deinen Gegner, bevor er dich zerstört!“
Es wird hier eine der typischen ‚Move by Move‘-Questions eingestreut: „Is this sound?“

7…Le6 8.f4 f6 9.Sd3

Nächste Frage: „Can’t White gain another tempo with f5?“
Antwort: „Dein Vorschlag ist noch nicht gespielt worden und ich vertraue ihm nicht.“

9…Lf7 10.0-0

Q: „Is this one of those cases of castling into it?“
A: „Ich bin kein Fan von der weißen Stellung. Houdini ‚sagt‘ selbiges.“

10…Sa6

„Why decentralize when d7 is available for the knight?“

Diese Frage ist zumindest für Trainingszwecke brauchbar. Die Idee stammt von Timman, der die Kontrolle über e6 wahren will, indem er den Springer nach c7 überführt (um nach späterem f5 e6 mit dem Springer auf e6 zurückzuschlagen). Das zentralisierende Sd7 gäbe dem Weißen nach f5 zu viel Raum und das Feld f4 als Basis für seinen Angriff.

Der größte Teil des Buches beschäftigt sich mit der symmetrischen und asymmetrischen Abtauschvariante. Dies ist sinnvoll, da für über 50% aller Weißspieler der Tausch auf d6 die erste Wahl ist. Schwarz kann sich nun entscheiden, mit dem e- oder c-Bauern wiederzunehmen. Die solidere Wahl ist auf jeden Fall exd6. Schwarz ist dem Ausgleich nahe, hat aber häufig Mühe, gegen schwächere Spieler auf Gewinn zu spielen. Die cxd6-Variante gilt dagegen als anrüchig, auch wenn der Autor versucht, ihr neues Leben einzuhauchen. Doch auch hier empfinde ich seinen Stil als unpassend und wenig ermutigend für den Nachziehenden. Oder könnten Sie sich für eine Variante erwärmen, dessen Abhandlung der Autor als das „quälendste Kapitel“ des Buches beschreibt? Die Statistik spricht jedenfalls für Weiß, das Hauptproblem ist die Voronezh-Variante:

k

Immerhin scheint hier der Wille vorhanden zu sein, dem Schwarzen neue Möglichkeiten aufzuzeigen – mithilfe von Analysen des Internationalen Meisters John Watson. Leider wird die Vielzahl der schwarzen Zugmöglichkeiten nur kurz besprochen (9…Sc6, 9…f5, 9…Lf5, 9…e6 und 9…a5). Dagegen sind Alternativen wie 9…Lf5 bzw. 9…a5, die schon von Nakamura und Iwantschuk gespielt wurden, dem Autor keine nähere Betrachtung Wert. Als einzig spielbare Möglichkeit gibt er stattdessen 9…e5 an:

10.dxe5 dxe5 11.Dxd8

Weiß sollte Damen tauschen, da Schwarz das Endspiel nun sehr präzise behandeln muss. Möglich ist aber auch 11.c5.

11…Txd8 12.c5 S6d7

12…Sd5?? 13.Td1 Le6 14.Lc4 wäre ein schneller Weg zum Verlust.

13.Lc4 Sc6 14.Sf3 Sa5 15.Le2

Auch Lb5 ist möglich, um a6 zu provozieren, was Schwarz nicht spielen sollte.

15…b6

Dieser Zug hat zumindest ein statistisches Ergebnis von 50%!

Anscheinend braucht Schwarz sich nicht vor b4, b5 nebst c6 zu fürchten. Allerdings braucht es dafür ein etwas tieferes Stellungsverständnis und man sollte sich nicht scheuen, die Partien auch einmal mit der Engine auszuloten.

FAZIT

Natürlich will dieses Buch die Aljechin-Verteidigung propagieren. Was ich sprachlich und mit den teilweise unnötig gestellten Fragen kritisiert habe, ist eventuell Geschmackssache, aber dass eine große Anzahl der Partien vom Schwarzspieler gewonnen werden, ist schlichtweg eine Verfälschung der Realität. Der Leser bekommt einen falschen Eindruck und zieht womöglich die falschen Schlüsse!

Lakdawalas Buch bietet einen Überblick über den Stand der Theorie in allen Varianten der Aljechin Verteidigung. Wirklich Neues ist aber wohl nur im Endspiel der asymmetrischen Abtauschvariante zu finden. Und auch hier wird nicht klar, warum man Aljechin spielen sollte!

Der Autor bemüht sich, die Variante mit diversen Kraftausdrücken und Umgangssprache an den Leser zu bringen. Doch diese marktschreierische Rhetorik schadet meiner Meinung nach nur der Qualität des Buches. Denjenigen, die gerne einen IM-Kumpel neben sich sitzen haben, der munter drauf los plaudert, sich ständig wiederholt und nicht Müde wird, Vergleiche mit Hitler und Napoleon zu bemühen, dem lege ich den Erwerb des Buches nahe. Alle anderen sollten ihr Geld besser sparen, um sich eine neue Datenbank zu kaufen.