KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

„SHREDDER IST MEIN FREUND“

Betrachtungen über einegefühlsmäßige Beziehung zu einem gefühlslosen Wesen

Von FM Johannes Fischer

Eigentlich heißt es „Bruce Lee is my friend“. Das stand auf einem Plakat mit dem Bild des legendären Kampfkünstlers, das bei einem Vereinskollegen von mir in der Küche hing. Gesehen habe ich es, als wir eines Sonntags zu einem Blitzturnier fuhren. Auf der Fahrt unterhielten wir uns über Kampfkunst und er erzählte vom Taekwondo und von Kwan, einem Taekwondo-Künstler, der Flusskiesel mit der bloßen Hand zerschlug. Flusskiesel sind härter als Beton- oder Holzplatten und mit bloßer Kraft kann man sie nicht zertrümmern – dazu braucht es Schnelligkeit, Kraft und Konzentration. Alles ziemlich inspirierend. Wir gewannen das Blitzturnier überzeugend und ich holte 22,5 Punkte aus 24 Partien, mein vielleicht bestes Blitzturnier überhaupt.

Immer, wenn ich jetzt mein Shredder-Programm starte, denke ich an dies Plakat. Tatsächlich ist Shredder mein Favorit – mein bester Freund, wenn man so will – unter den Schachprogrammen. Aber was macht ein Computerprogramm attraktiver als andere? Warum mögen manche Leute Fritz am liebsten, andere wieder Hiarcs, Nimzo, ChessTiger oder Junior, während manche auf Ruffian oder Crafty schwören – oder, wie ich, auf Shredder?

Spielstärke spielt natürlich eine Rolle, aber ich glaube nicht, dass sie den Ausschlag gibt. Und selbst wenn man nur mit dem stärksten Programm analysieren bzw. spielen möchte, so weiß niemand, welches Programm das ist. Natürlich, es gibt die schwedische Rangliste der besten Computerprogramme und die Computerweltmeisterschaften, aber Klarheit schaffen beide nicht.

Ende November ging in Graz die Computer-WM zu Ende und tatsächlich hat Shredder gewonnen, im Stichkampf gegen Fritz, aber nur mit Glück: wenn Shredders Gegner in der letzten Runde Remis durch dreimalige Zugwiederholung reklamiert hätte, wäre Fritz Weltmeister geworden (siehe Partie weiter unten). Mir jedenfalls ist egal, wer Weltmeister ist oder die schwedische Rangliste anführt. Gut sind die Programme alle. Außerdem arbeite ich noch mit einer alten Shredder-Version, Shredder 6 – und auch mein Computer könnte schneller sein.

Viel wichtiger für Sympathie und Antipathie gegenüber Schachprogrammen scheint mir ihr Name zu sein. Wenig überraschend für jemanden, der für eine Schachzeitschrift namens Karl arbeitet, halte ich hier „Fritz“ für unübertroffen gut. Das klingt gemütlich, freundlich, verspielt und weckt Gedanken an einen strubbelhaarigen, fröhlichen Lausbub. Es klingt nicht so brutal berechnend wie „Brutus„, so technisch wie „Hiarcs„, so unverblümt wie „ChessTiger“ oder so sehr nach amerikanischer Nachmittagsfamilienserien wie „Junior„. Auch jemanden, der sich „Ruffian“ – zu deutsch Rüpel, Grobian, Raufbold, Schläger – nennt, würde ich mir nur widerstrebend zum Spielen oder zur Analyse ins Haus einladen.

Tatsächlich waren meine anfänglichen Vorbehalte gegen Shredder seinem Namen geschuldet, der Assoziationen an Aktenvernichtung und Altpapier zerschreddernde Büromaschinen heraufbeschwor – die Erklärung des Programmierers Stefan Meyer-Kahlens, Shredder sei ein Ausdruck aus der Welt des Surfens, half dagegen wenig.

Natürlich alles irrational und subjektiv. Sucht man nach rationalen Argumenten, die für oder gegen bestimmte Computerprogramme sprechen, könnte man auf den Gedanken kommen, nach der Bedienerfreundlichkeit der Oberfläche der Programme zu fragen. Vergleichen lassen sie sich damit allerdings kaum. Denn die meisten Programme entwickeln sich immer mehr zu Engines, d.h. sie operieren zunehmend unter der Fritz-Oberfläche, die in bezug auf Benutzerfreundlichkeit, Übersichtlichkeit und Funktionalität das Mass aller Dinge darstellt. Shredder bewahrt sich in diesem Punkt zwar noch eine gewisse Eigenständigkeit und bis jetzt kann der Shredder-Fan neben der Fritz-Oberfläche auch noch die Shredder-Classic Oberfläche installieren. Dahinter verbirgt sich die Oberfläche, die entwickelt wurde, bevor Shredder unter das Dach der ChessBase-Familie kam. Sie enthält so schöne Spielereien wie das Endspielorakel und Triple Brain – die zu haben nett sind, aber die man tatsächlich selten braucht.

Tatsächlich hat die einheitliche Oberfläche der Schachprogramme neben erhöhter Bedienerfreundlichkeit noch einen anderen Vorteil. Sie lenkt den Blick auf das eigentliche, nämlich das Schach, den Stil der einzelnen Programme. Und hier gefällt mir Shredder am besten. Warum das so ist, weiß ich gar nicht genau, vermutlich einfach Geschmackssache. Jedenfalls wirken Shredders Züge auf mich bei aller Aggressivität und Raffinesse stets fundiert, gediegen und elegant. Wie der Kampfstil von Bruce Lee.

Tatsächlich liefert die umstrittene Partie aus der elften und letzten Runde der Computer-WM ein gutes Beispiel für Shredders eleganten Angriffsstil – was über die Debatte um die Zugwiederholung im 37. Zug leicht vergessen wird.

SHREDDER – JONNY 2.51
Graz 2003

1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 d6 6.Lg5 Le7 7.f4 0-0 8.Df3 e5 9.Sf5 Lxf5 10.exf5 e4 11.Dh3 h6 12.Lh4 Dc7 13.g4 d5 14.g5 hxg5 15.fxg5 Sh5 16.0-0-0 Tc8 17.Lg3 Sf4 18.Lxf4 Dxf4+ 19.Kb1 Lxg5

Von Beginn an setzte Shredder auf Angriff und das von ihm gebrachte Bauernopfer öffnet Linien gegen den gegnerischen König. 20.f6 Sc6 21.fxg7 Kxg7 22.Le2 d4 23.Thf1 Dh4 24.Df5 dxc3

25.Tg1 Ein paradoxder Angriffszug: Weiß nimmt den Druck von f7 und greift auf der g-Linie an. Ein starkes Konzept. Die schwarze Stellung bricht schnell zusammen. 25…Kf8 26.Txg5 Se7 27.Df6 Dh7 28.Td7 Sg6 29.Txb7 Dg7 30.Dd6+ Kg8

31.Txf7 Dxf7 32.Txg6+ Kh7 33.Tg4 Tab8 34.Th4+ Kg8 35.Tg4+ Kh7 36.Th4+ Kg8 37.Tg4+ Kh7 Diese Zugwiederholung ist nun allerdings alles andere als Bruce Lee-Stil und machte die Partie zu einem Fall für den Schiedsrichter: nach Kh7 steht die gleiche Stellung zum dritten Mal auf dem Brett. Warum Shredder die Züge wiederholt hat, bleibt schleierhaft, schätzt er seine Stellung doch als klar gewonnen ein. Vermutlich ein Bug, ein Fehler im Programm, der im falschen Moment sichtbar wurde. Aber Shredder bekam noch eine zweite Chance: der Programmierer und Bediener des gegnerischen Programms verzichtete darauf, Remis zu reklamieren und spielte weiter – und verlor natürlich. Damit hatten Shredder und Fritz die gleiche Punktzahl und spielten einen Stichkampf gegeneinander, den Shredder 1,5:0,5 gewann. 38.Lc4 Txb2+ 39.Ka1 Txc4 40.Th4+ Kg8 41.Dd8+ Df8 42.Tg4+ Kf7 43.Dd7+ De7 44.Tf4+ Kg6 45.Dxe7 Txa2+ 46.Kxa2 Ta4+ 47.Kb3 Tb4+ 48.Kxb4 a5+ 49.Kxc3 a4 50.Df6+ Kh5 51.Th4# 1-0

Schlussbemerkung: Die neueste Shredder-Version, Shredder 8, soll am 8. Januar ausgeliefert werden.

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