KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

ZWEIMAL SAKAEW (II):

NEUIGKEITEN IM ANTI-MERAN

Von FM Erik Zude

Sakaevs Semi-Slav Anti-Meran Cover

Konstantin Sakaev, Semko Semkov,
Latest Trends in the Semi-Slav: Anti-Meran
Chess Stars Openings 2005,
204 Seiten,
23,50 Euro

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

In Latest Trends in the Semi-Slav: Anti-Meran analysieren Konstantin Sakaew und Semko Semkow das System mit 6. Dc2 gegen Semi-Slawisch. Ausgangspunkt ist die Stellung nach 1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sc3 Sf6 4. e3 e6 5. Sf3 Sbd7 6. Dc2. Weiß vermeidet damit die horrenden Verwicklungen der Botwinnik- sowie der Moskauer Variante. Das Buch ähnelt in Aufmachung und Herangehensweise Sakaews Grünfeld-Indisch Buch. Auch hier wird der Fokus rein auf die Eröffnungsphase gesetzt, vollständige Partien sind die Ausnahme; Partiefragmente enden meist nach der Eröffnungsphase mit einer Bewertung der beiderseitigen Chancen. Im Unterschied zum Grünfeld-Indisch Buch wird hier jedoch das gesamte Eröffnungssystem betrachtet; es werden für beiden Parteien alle relevanten Abspiele beginnend mit der Stellung nach 6. Dc2 vorgestellt.

Der Band ist in 3 Teile untergliedert:

Teil 1 behandelt in 7 Kapiteln das Abspiel 6. Dc2 Ld6 7. g4 (84 Seiten).

  • Kapitel 1 6. … Ld6 7. g4 Sg4
  • Kapitel 2 6. … Ld6 7. g4 Sg4 8. Tg1 f5
  • Kapitel 3 6. … Ld6 7. g4 dc4
  • Kapitel 4 6. … Ld6 7. g4 dc4 8. Lc4 e5
  • Kapitel 5 6. … Ld6 7. g4 Lb4
  • Kapitel 6 6. … Ld6 7. g4 h6
  • Kapitel 7 6. … Ld6 7. g4 0-0

Teil 2 stellt in 2 knappen Kapiteln die Varianten 6. … Le7 und 6. … b6 vor, mit denen Schwarz den weit ausanalysierten Hauptvarianten ausweichen kann (19 Seiten).

  • Kapitel 8 6. …Le7
  • Kapitel 9 6. … b6

Teil 3 zeigt in 9 Kapiteln die nach 6. Dc2 Ld6 entstehenden etwas ruhigeren Abspiele 7.Le2, 7. Ld3 und 7. b3 (79 Seiten).

  • Kapitel 10 6. …Ld6 7. Le2
  • Kapitel 11 6. …Ld6 7. Le2 0-0 8. 0-0
  • Kapitel 12 6. …Ld6 7. Le2 0-0 8. 0-0 dc4
  • Kapitel 13 6. … Ld6 7. Le2 0-0 8. 0-0 dc4 9. Lc4 b5 10. Ld3
  • Kapitel 14 6. …Ld6 7. Le2 0-0 8. 0-0 dc4 9. Lc4 b5 10. Le2
  • Kapitel 15 6. …Ld6 7. Le2 0-0 8. 0-0 dc4 9. Lc4 a6
  • Kapitel 16 6. …Ld6 7. Ld3 0-0 8. 0-0
  • Kapitel 17 6. …Ld6 7. b3
  • Kapitel 18 6. …Ld6 seltene Fortsetzungen; 6. Dc2 a6

In einem Nachwort geben die Autoren auf fünf Seiten dem Weißen Hinweise, wie er um das System 6. Dc2 herum ein komplettes Eröffnungsrepertoire gegen Slawisch aufbauen kann.

Erfreulicherweise wurden zwei der obigen Kritikpunke an Sakaews Grünfeld-Indisch Buch in diesem Band postwendend behoben. Es finden sich sowohl ein Literaturverzeichnis als auch ein eigenständiger Varianten-Index, der zwar etwas knapp erscheint, aber zur schnellen Orientierung ausreicht. Unersättliche Kritiker mögen jetzt noch einen Spieler-Index fordern oder eine Erklärung der verwendeten (Standard-) Symbole, aber das tue ich ausdrücklich nicht.

Der Kritikpunkt bzgl. der englischen Sprache bleibt jedoch auch bei diesem Band bestehen. Der Übersetzer wird zwar nicht genannt, ist jedoch kaum mit Englisch als Muttersprache aufgewachsen. Der Text ist aber in einem einfachen Englisch verfasst und jederzeit gut verständlich. Die Qualität der Aufmachung ist sehr hoch, allerdings sind mir in diesem Band eine Handvoll kleinerer redaktioneller Fehler aufgefallen. Dies hat in meinem Fall den Lesegenuss jedoch nicht beeinträchtigt.

Die Struktur dieses Bandes wurde gegenüber dem Buch über Grünfeld-Indisch noch geringfügig verbessert. In jedem Kapitel findet sich neben der schon bekannten Einleitung auch eine abschließende Zusammenfassung, die eine Empfehlung bzgl. der zu wählenden Variante gibt sowie einen Ausblick wagt, in welcher Richtung sich die Theorie einer Variante weiterentwickeln könnte. Zusammen mit der Einleitung ist damit alles getan, was dem Leser die Auswahl der Varianten erleichtern kann.

Die Autoren legen bei der Auswahl des Material großen Wert auf Aktualität. Es finden sich zahlreiche Partiefragmente neueren Datums. Bei Partien aus 2004 wird des öfteren sogar das genaue Datum angegeben.

Inhaltlich gesehen ist auch dieses Werk auf der höchsten Stufe anzusiedeln! Die Autoren beweisen durchweg, dass es Ihnen neben der Darstellung des gegenwärtigen Standes der Eröffnungstheorie ganz wesentlich um das Vermitteln von Stellungsverständnis geht. Es stehen immer wieder Fragen nach den beiderseitigen Entwicklungsplänen im Vordergrund. Wie können alle Figuren gut entwickelt werden? Was sind die Vor- und Nachteile der Befreiungshebel e6-e5 oder c6-c5 in der jeweiligen Stellung? Wie kann Weiß versuchen, die Aktivierung des oft problembehafteten schwarzen Damenläufers zu erschweren? Diese und ähnliche Fragen stellen die Autoren immer wieder und sparen dann nicht mit ausführlichen Erläuterungen. In jedem Kapitel erfährt der Leser bereits in den einleitenden Bemerkungen einiges über die wesentlichen Ideen beider Seiten, wie sich die Variante in den letzten Jahren entwickelt hat und welches die aktuellen Probleme darstellen.

Besonders wertvoll sind solche Erkläuterungen im System 7.g4. Weiß versucht frühzeitig, das schwarze Zentrum von der Flanke her anzugreifen. Semkow und Sakaew machen von Anfang an klar, dass es bei g2-g4 nicht darum geht, am Königsflügel anzugreifen, z.B. mit folgendem h2-h4 usw., sondern dass der Angriff fast immer dem Zentrum gilt. Wesentlich ist z.B., dass Weiß die Stellung des Läufers d6 auf verschiedene Arten ausnutzen kann: Zum einen durch die drohende Gabel nach eventuellem e3-e4, falls Schwarz auf c4 schlägt. Zum anderen durch Sc3-e4, falls Schwarz nach dem Schlagen auf c4 Sf6-d5 folgen lässt. Wie die Autoren immer wieder betonen, muss Weiß versuchen, die schwarze Entwicklung durch das Vermeiden von Figuren-Abtausch zu erschweren. Der gegenwärtige Stand der Theorie ist, dass bisher noch kein klarer Ausgleich für Schwarz gefunden wurde. Die Variante ist im Spitzenschach jedoch hoch aktuell. Es gibt zahlreiche forcierte Varianten und beide Seiten müssen stets vor Verstärkungen auf der Hut sein.

Die im zweiten Teil vorgestellten Systeme 6… Le7 und 6… b6 sind dann ein willkommener Einschub für diejenigen Schachfreunde, die eigentlich nicht so viel Eröffnungstheorie studieren möchten und mit den schwarzen Steinen mit einer, vorerst, etwas gedrückten, aber harmonischen Figurenaufstellung zufrieden sind, um dann, nach vollendeter Entwicklung, mit einem Befreiungsschlag im Zentrum loszulegen. Wie die Autoren ausführen, ist es alles andere als leicht, in diesen Systemen einen Vorteil für Weiß nachzuweisen! Die Hauptvarianten enden mit ungefährem Ausgleich, Semkow und Sakaew geben jedoch einige Anregungen, wo Weiß nach einem Vorteil suchen sollte. Da sich bei den Anwendern dieser Systeme einige Spitzenspieler finden, darf man hier auf die weitere Entwicklung sehr gespannt sein.

Der dritte Teil behandelt das Karpow-System: Weiß spielt 7.Le2 und versucht in der Folge, mit Druck im Zentrum die schwarzen Hebel c6-c5 und e6-e5 zu bekämpfen. Die Abweichungen 7.Ld3 sowie 7. b3, die oft lediglich zu Zugumstellungen führen, werden ebenfalls in diesem Teil erläutert. Das Karpow-System ist in den letzten Jahren von 7. g4 verdrängt worden und etwas aus der Mode gekommen. Dennoch sind die hier entstehenden Stellungsbilder sehr inhaltsreich. Meines Erachtens sind die 79 Seiten, die die Autoren diesem System widmen, vollauf berechtigt. Es kann zu einer Vielzahl von verschiedenen Bauernformationen kommen, oft z.B. Stellungen mit einem weißen isolierten Damenbauer oder einer 4:3-Bauernmehrheit am Königsflügel. Auch in diesem Teil sind die Erläuterungen von Semkow und Sakaew sehr ausführlich: Man lernt nicht nur etwas über die jeweilige Eröffnungszugfolge, sondern auch etwas über die Behandlung solcher Stellungen im allgemeinen. Z.B. stellen sie in Kapitel 10, Abspiel B eine Variante vor, in der Schwarz vor dem Abtausch auf c4 e6-e5 spielt und es dem Weißen erlaubt, gegen einen schwarzen isolierten Damenbauern zu spielen. Die Autoren erläutern hier ausführlich eine Standard-Vorgehensweise im Spiel gegen einen isolierten Damenbauern.

Im Nachwort machen Semkow und Sakaew, gewissermaßen als Zugabe, einen Vorschlag, mit welcher Zugfolge Weiß heutzutage am besten Slawisch vermeidet und in die im Buch behandelten Systeme überlenkt. Dies beinhaltet eine kurze Bewertung des Standes der Theorie in einigen verwandten Systemen, u.a. dem Marshall-Gambit (1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sc3 e6 4. e4) und dem Winawer-Gambit (1. d4 d5 2. c4 c6 3. Sc3 e5), in denen, laut Semkow und Sakaew, Schwarz momentan einige Probleme hat. Dieses Kapitel ist eine nützliche Hilfe beim Aufbau eines Weiß-Eröffnungsrepertoires.

Insgesamt hat mir auch dieses Buch sehr gut gefallen! Die Autoren stellen aktuelles Material übersichtlich vor und bereichern es mit sehr guten Erläuterungen und einigen eigenen Analysen, wenn auch etwas weniger, als im Grünfeld-Indisch Band von Sakaew. Auch hier sind Materialauswahl sowie Bewertungen und Analysen auf der höchsten Stufe anzusiedeln.

FAZIT

Das Buch kann allen Schachfreunden empfohlen werden, die mit Weiß oder Schwarz Semi-Slawisch spielen.