KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

STRUKTURELLES BASISWISSEN

Von IM Erik Zude

Kosten Mastering Nimzo-Indian Cover

Tony Kosten
Mastering The Nimzo-Indian Defence
Batsford 1998 ( Reprinted 2000, 2002),
kartoniert, Englisch, 144 Seiten

(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

Kann man heutzutage eigentlich guten Gewissens ein fast schon zehn Jahre altes Eröffnungsbuch empfehlen? Im Zeitalter der galoppierenden Inflation der Schachdatenbanken? Wo das wöchentliche The Week In Chess-update tausende von Partien enthält, die rund um den Globus auf eröffnungstheoretische Neuigkeiten überprüft werden? Wo in immer kürzeren Abständen neue Repertoire-Bücher erscheinen, mit weit ausanalysierten, Computer-geprüften Varianten, die zum Zeitpunkt des Erscheinens schon wieder Schnee von gestern sind?

In Mastering the Nimzo Indian Defence setzt sich Großmeister Tony Kosten das Ziel, den Leser mit den grundlegenden Bauernstrukturen und beiderseitigen Plänen in der Nimzoindischen Verteidigung vertraut zu machen. Er räumt in der Einleitung selbst ein, dass das Studium des Bandes kaum ausreichend sein wird, diese strategisch sehr komplexe Eröffnung wirklich zu „meistern“. Trotzdem ist dieser Ansatz für Neulinge im Nimzoindischen sicherlich sehr wirkungsvoll. Bei fast allen Eröffnungsbüchern über Nimzoindisch kommt dieser Aspekt deutlich zu kurz, insbesondere bei Repertoire-Büchern, bei denen die eine oder andere Nimzoindische Zentrumsstruktur überhaupt nicht erwähnt wird.

Tony Kosten erläutert in 22 Kapiteln 19 verschiedene Zentrumsstrukturen. Die ersten drei Kapitel sind allgemeinen strategischen Merkmalen gewidmet, dem weißen c-Doppelbauern, seinem Läuferpaar und seinem (angestrebten oder tatsächlich erzielten) Raumvorteil im Zentrum. Die Zentrumsstrukturen sind in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil finden sich diejenigen Strukturen, die sich durch die Auflösung des weißen Bauernpaares c4 und d4 gegen das schwarze Paar d5 und c5 ergeben, also der isolierten Damenbauer, Hängebauern etc.. Diese Strukturen sind natürlich auch über die Nimzoinidsche Verteidigung hinaus von großer Bedeutung für eine Vielzahl von Eröffnungen. Der zweite Teil behandelt die „schwarzfeldrige Blockade“, gemeint ist, dass Schwarz mit Bauern auf d6 sowie c5 oder e5 das weiße Zentrum blockiert. Im dritten Teil werden Stellungsbilder behandelt, die sich ergeben, wenn Schwarz seinen Damenläufer fianchettiert.

Jedes Kapitel beginnt mit einer ausführlichen verbalen Diskussion der beiderseitigen Pläne in der jeweiligen Struktur. Dabei kommen auch typische taktische Motive oder kritische Felder nicht zu kurz. Danach kommentiert Kosten jeweils eine Partie, wobei seine Kommentare sehr „leichtgewichtig“ sind. Es findet sich kein ausgeprägtes taktisches Variantengestrüpp, Kosten beschränkt sich sehr auf strategische Ideen und die Kernpunkte der Partien. Die insgesamt 21 Beispielpartien sind überwiegend aus dem Zeitraum 1995-1997 und stammen ausnahmslos von Großmeistern oder Weltklassespielern.

Tony Kosten beendet den Band mit einem dreiseitigen Variantenverzeichnis, das für jedes System die Referenz auf die relevanten Zentrumsstrukturen sowie die Beispielpartien enthält.

Reicht der Band aus, um mit Schwarz Nimzoindisch in der Praxis anzuwenden? Bei der Auswahl der von Schwarz eingesetzten Varianten hat Tony Kosten offensichtlich die forcierten und weit ausanalysierten Systeme vermieden. Dadurch wird das Verständnis des strategischen Gehaltes der Eröffnung sehr in den Vordergrund gestellt. Konkretes Variantenwissen muss aber sicherlich früher oder später dazukommen, besonders falls Weiß scharf angreift, also beim Sämisch-System, dem System 4.f3 sowie in der Leningrader Variante. Turnierspieler sollten also in jedem Fall ihre üblichen zusätzlichen Quellen zu Rate ziehen. In den meisten Fällen, insbesondere nach 4.Dc2, kann man als Schwarzer ruhig mit etwas weniger theoretischem Balast ans Brett gehen. Um zu verdeutlichen, was ich damit meine, hier eine „recht“ aktuelle Großmeisterpartie, pardon, eigentlich doch schon Schnee von gestern. Wie auch immer, hoffentlich doch instruktiv. Natürlich weiss ich nichts über Zviad Izorias Nimzoindischen Kenntnisstand, wahrscheinlich weiss er eine Menge. Trotzdem: Um in der folgenden Partie einen namhaften Großmeister mit Schwarz zu überspielen, hätte er eigentlich nicht viel wissen müssen:

FILIPPOV (2621)
IZORIA (2602)

CCA-ICC Open Lake George USA (6), 14.05.2005

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.Dc2 0–0 5.a3 Lxc3+ 6.Dxc3 Dies ist seit einigen Jahren eine oder gar „die“ Nimzoindische Hauptvariante im Spitzenschach. Zviad Izoria entscheidet sich jetzt für einen natürlichen Zug, der allerdings schon etwas seltener ist; laut meiner Datenbank spielt er ihn hier das erste Mal in seiner Turnierpraxis. 6…d6 Schwarz möchte den Damenläufer mit e6-e5 befreien. Auch wenn Tony Kosten in seinem Buch diese konkrete Zugfolge nicht erwähnt, so beschreibt er doch ausführlich in seinem Kapitel „The Zurich Centre“, worum es bei dieser Zentrumsformation geht. 7.g3 Filippov seinerseits antwortet auch mit einem etwas selteneren Zug, laut meiner Datenbank ebenfalls das erste mal in seiner Turnierpraxis. Sowohl Filipov als auch Izoria konnten sich also kaum vor der Partie konkret auf diese Stellung vorbereiten. Vermutlich waren also beide schon sehr bald auf sich selbst gestellt, ohne allzuviel Wissen um forcierte Theorievarianten. 7…e5 8.dxe5 dxe5 9.Lg2 [9.Dxe5?! Sc6 10.Dc3 Se4 mit großem Entwicklungsvorsprung und schöner Initiative für nur einen Bauern.] 9…Te8 10.Sf3 Sc6 11.Le3 a5 Laut Tony Kosten „Fixing the Queenside“. Schwarz hat wohl ungefähren Ausgleich und überspielt seinen Gegner in der Folge. Wo genau die Fehler lagen, geht auch aus Izorias Informator-Analyse nicht hervor (SI94/421), ist hier aber auch nicht von Bedeutung. 12.0–0 De7 13.Tad1 h6 14.Sd2 a4 15.Se4 Sxe4 16.Lxe4 Sd4 17.Tfe1 c5 18.f3 f5 19.Ld5+ Le6 20.Lf2 Df7 21.Lxe6 Txe6 22.Kg2 Dh5 23.e4 Tf8 24.Lxd4 exd4 25.Dd3 fxe4 26.Txe4 Tb6–+ 27.g4 Df7 28.b4 axb3 29.Tb1 Tf6 30.Txb3 b5 31.De2 bxc4 32.Te7 cxb3 33.Txf7 T6xf7 34.Db5 c4 0–1

Der Band ist unterhaltsam und sehr gut verständlich geschrieben und damit leicht zu lesen. Tony Kosten hat sicherlich Recht wenn er sagt, dass diejenigen, die alle Strukturen spielen können, im Vorteil sind. Dafür legen seine guten Erklärungen eine gesunde Basis.

FAZIT

Das Buch kann ich guten Gewissens empfehlen.