KOLUMNE

Die Karl-Kolumne ergänzt die Printausgabe des Karl. Die Kolumne präsentiert Rezensionen aktueller und alter Schachbücher, Betrachtungen über die Literatur, Kultur und Psychologie des Schachs und gelegentliche Kommentare zum aktuellen Schachgeschehen.

 

SOLIDE ARBEIT ÜBER EINE SOLIDE ERÖFFNUNG

Von FM Joachim Wintzer

The Cambridge Springs Cover

Krzysztof Panczyk und Jacek Ilczuk
The Cambridge Springs,
Including a repertoire for Black when White avoids the Cambridge Springs.
Gambit Publications Ltd. 2002,
Sprache: Englisch,
Paperback, 192 S.,
21,85 Euro

​(Das Belegexemplar wurde  freundlicherweise von der Firma Niggemann zur Verfügung gestellt.)

ÜBER DEN AUTOR

Die polnische Autoren IM Panczyk und Fernschachspieler Ilczuk legen mit The Cambridge Springs ihr Erstlingswerk vor. Panczyk hat seinen Untersuchungsgegenstand bereits in mehreren Partien gespielt.

DIE CAMBRIDGE-SPRINGS-VARIANTE

Die Cambridge-Springs-Variante entsteht nach den Zügen. 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.e3 c6 6.Sf3 Da5. Der Damenzug nach a5 wurde bereits im Jahre 1897 von Lasker in einer Simultanpartie erprobt. Populär wurde diese Verteidigung gegen das Damengambit auf dem Turnier zu Cambridge Springs 1904. Die Ergebnisse sprachen allerdings nicht für die Variante. Von den vier dort gespielten Partien gewann Weiß zwei, die beiden anderen Partien endeten mit einer Punkteteilung. Im Weltmeisterschaftskampf Capablanca-Aljechin, Buenos Aires 1927, wandten beiden Seiten diese Eröffnung an. In den Partien der Spitzengroßmeister ist die Cambridge-Springs-Variante nach wie vor ein seltener Gast. Heutzutage verteidigen nur Mikhail Gurewitsch und Arthur Jussupow gelegentlich die schwarzen Farben.

Das Markenzeichen dieser Variante ist ihre Solidität. Schwarz muss nicht befürchten, in wenigen Zügen überrannt zu werden. Umgekehrt braucht der Weißspieler abgesehen von zwei Eröffnungsfallen (1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.cxd5 exd5 6.Sxd5?? Sxd5 und 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.e3 c6 6.Sf3 Da5 7.Ld3? dxc4 8.Lxf6 [8.Lxc4 Se4 9.Lh4 Sxc3 10.bxc3 Dxc3+] 8…Db4 9.Lxg7 Lxg7 10.Lc2 Dxb2) keine versteckten Tretminen fürchten. Indem Schwarz einen Angriff gegen den Sc3 mittels Lb4 und Se4 einzuleiten droht, zwingt er Weiß, prophylaktische Maßnahmen zu ergreifen.

GLIEDERUNG

Wie die Gliederung des Buches zeigt, entscheiden sich die Weißspieler hauptsächlich für einen der drei Züge 7.Lf6:, 7.cd: und 7.Sd2.

Introduction (5 Seiten)
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.e3 c6 6.Sf3 Da5
Rare 7th Moves for White (10Seiten)
7.Bxf6 (18 Seiten)
7.cxd5: introduction and Minor Lines (15 Seiten)
7.cxd5 Sxd5 including 8.Dd2 S7b6 (15 Seiten)
7.cxd5 Sxd5 8.Dd2 Lb4 (14 Seiten)
7.Sd2: Introduction and Minor Lines (8 Seiten)
7.Sd2 dxc4 (17 Seiten)
7.Sd2 Lb4: Minor Lines (25 Seiten)
7.Sd2 Lb4: Main Line (8.Qd2 0-0) (30 Seiten)
White Avoids the Cambridge Springs: Minor Lines (15 Seiten)
White Avoids the Cambridge Springs: Exchange Variation with Lg5 (13 Seiten)
Index of Variations (2 Seiten)
 

VORGÄNGER UND AKTUALITÄT

Die Autoren betreten mit ihrer Monographie Neuland. Bisher hat es noch keine eigenständige Abhandlung über die Cambridge-Springs-Variante gegeben. Taimanow handelte die Eröffnung in seinem „Damengambit bis Holländisch“ von 1980 auf sieben Seiten ab. Partien wurden bis einschließlich 2001 berücksichtigt.

PRÄSENTATION DES MATERIALS

Die Aufblähung des Umfangs von 7 auf 176 Seiten ist nicht das Ergebnis einer ausführlichen Darlegung strategischer und taktischer Motive, sondern der Berücksichtigung nahezu aller verfügbaren Partien, welche in der Cambridge-Springs-Variante je gespielt worden sind. Viele unterklassige deutsche Spieler werden erfreut feststellen können, daß eine von ihnen bei einem Open oder in der dritten oder vierten Liga gespielte Partie in das Buch Eingang gefunden hat, weil die deutschen Turniere weit häufiger Aufnahme in die Chessbase-Datenbanken finden als die Turniere anderer Länder. Der Preis für die Berücksichtigung dieser Partien ist allerdings hoch. Eine der Hauptaufgaben für die Verfasser von Eröffnungsbüchern ist es, das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden. Indem die Autoren sich dieser Aufgabe weitgehend verweigert haben, fällt es dem Leser nicht einfach, sich im Dickicht der Varianten zurechtzufinden. Die Stellungsbewertungen schwanken in fast allen Varianten zwischen += und =. Nur in wenigen Abspielen sind beide Seiten gezwungen, in einer forcierten Variante die einzigen Züge zu spielen. Häufig steht Weiß vor der Entscheidung, sich für einen der Züge a3, Dc2, Tac1, Tfd1, Se5 und Se4 entschließen zu müssen. Die Unterschiede zwischen diesen Zügen sind geringfügig. Weiß beherrscht mehr Raum, Schwarz hat das Läuferpaar. Da diese Grundkonstellation immer wieder auftritt, hätte ich es begrüßt, wenn sich die Autoren über diese Stellungsproblematik ausgelassen hätten.

Das Material wird wie bei Gambit-Büchern üblich in enzyklopädischer Form dargeboten. Kurze Zusammenfassungen am Anfang und Ende eines jeden Kapitels ermöglichen eine schnelle Orientierung über den Wert einer Variante.

Positiv zu vermerken ist, dass sich Panczyk und Ilczuk bemüht haben, Lücken in der Theorie mit eigenen Vorschlägen zu füllen. Bemerkenswert ist beispielsweise, dass sie sich nach 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.e3 c6 6.Sf3 Da5 7.Sd2 für die scheinbar anspruchslose Behandlung mit 7…dc4: statt des häufiger gespielten 7…Lb4 aussprechen.

Den Autoren war bewusst, dass eine Monographie über die Cambridge-Springs-Variante nur auf ein begrenztes Interesse (= Käuferkreis) hoffen kann. Sie haben sich daher dafür entschieden, auch die Varianten zu berücksichtigen, in denen Weiß frühzeitig auf d5 nimmt und Schwarz mit dem e-Bauern wiedernimmt. Ihre kurze Zusammenfassung der Theorie der Abtauschvariante baut auf den Analysen von Janjgavas „The Queen’s Gambit and Catalan for Black“ auf.

STAND DER DINGE

Wie bereits erwähnt, behaupten die Autoren, dass Schwarz in der Variante mit dc4: ausgleichen kann: 1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Sbd7 5.Sf3 c6 6.e3 Da5 7.Sd2 dxc4 8.Lxf6 Sxf6 9.Sxc4 Dc7 10.Le2 Le7 11.0-0 0-0 12.Tc1 Td8 13.Dc2 Ld7

Entstanden ist eine für die Cambridge-Springs-Variante typische Konstellation. Weiß beherrscht mehr Raum und muss sich nun Gedanken darüber machen, wie er die befreienden Vorstöße e5 und c5 verhindern kann. Die Hauptvariante bei Panczyk und Ilczuk ist: 14.Se5 Als weitere Alternativen geben sie 14.a3, 14.Lf3, 14.e4 und 14.Se4 an. Die ersten beiden Züge analysieren sie zum Ausgleich, gegen 14.e4 schlagen sie 14…Le8 15.Tfd1 c5!? vor. Zu 14.Se4 zitieren sie die Partie Kasparow-Am. Rodriguez, Moskau IZ 1982, in der es wie folgt weiterging: 14…Sxe4 15.Dxe4 c5 16.dxc5 Lc6 17.De5 Dxe5 18.Sxe5 Td2 „with counterplay“. 16….Lc6 ist aber ein ernster Fehler, denn Weiß gewann das Endspiel nach 19.Lf3! Lxf3 20.gxf3 Txb2 21.Tb1 Txb1 22.Txb1 Lxc5 23.Txb7 f6 24.Sd7 Ld6 25.f4 a5 26.Tb6.

Der richtige Zug ist 16…Lxc5!, z.B. 17.Se5 Db6 18.Lf3 Tab8 19.Tfd1 Die Lage sieht recht gefährlich für Schwarz aus, er kann sich jedoch ziemlich problemlos befreien: 19…Le8 20.Txd8 Txd8 21.Dc2 (Auf 21.Dxb7 folgt 21..Lxe3! – nun scheitert dieser Zug an 22.Sc4) 21…Lf8! 22.Db3 23.axb3 f6 =.

Zurück zur Hauptvariante 14.Se5. Nach 14…Tac8 15.Se4 Le8 16.Sxf6+ Lxf6 17.f4 soll Weiß leichten Vorteil haben. Als Alternativen nennen die Autoren
14…Le8 und 14…c5. Ihre Analyse zu 14…c5 lautet:

15.Se4 Sxe4 16.Dxe4 Lc6 17.Sxc6 Dxc6 18.Dg4 [18.Dxc6 bxc6 19.dxc5 Td2 20.Lf3 Txb2 21.a4 Tc8 22.Tfd1 Tc7 =] 18…Db6 19.dxc5 Lxc5 20.Tc2 Td7 21.Tfc1 Le7=. Ich bin davon nicht ganz überzeugt. Wie gleicht Schwarz nach 15.Sxd7 aus, z.B. Sxd7 (15…Txd7 16.Sa4 Tc8 17.dxc5; 15…Dxd7 16.Tfd1 cxd4 17.Txd4) 16.Se4.

Zum Textzug 14…Le8 zitieren die Autoren die Partie Schöne-Tschechow, OL 94/95 Nordost: 15.a3 Tac8 16.b4 Ld6 17.f4 Statt der Partiefortsetzung 17…De7 18.Db3 Sd5 19.Sb1 f6 20.Sc4 Lb8 21.Lg4 Lf7 wird 17..a5 18.Db3 axb4 19.Sb5 De7 20.Sxd6 Dxd6 21.axb4 Sd5= empfohlen.

Als Leser stellt man sich die Frage, warum Weiß nicht analog der Spielweise zu 14….Tac8 versucht, das Manöver Se4-f6 nebst f4 zu vollenden. Diese kritischen Fragen betreffen zugegebenermaßen Nuancen. Wenn die Unterschiede zwischen den Varianten aber so gering sind, so hätte ich mir als Leser gewünscht, dass die Autoren ihre Urteilskriterien nachvollziehbar darlegen oder unnötigen Ballast abwerfen.

FAZIT

The Cambridge Springs wird für lange Zeit die definitive Monographie zu dieser Eröffnung blieben. Statt der Ausbreitung allen verfügbaren Partienmaterials wäre vermutlich ein 30-seitiger Theorieartikel für den Leser nutzbringender gewesen. Wer mit Schwarz ein ultrasolides Eröffnungsrepertoire einstudieren möchte, könnte an dem Buch gefallen finden. Da Worterklärungen weitgehend fehlen, sollte der Leser ein Spielstärke von circa 1800 DWZ aufwärts besitzen.